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Matthias Petzold
Familien heute
Sieben Typen familialen
Zusammenlebens
Die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie
kann in Deutschland nicht mehr als häufigste Lebensform bezeichnet
werden. Zum Verständnis der großen Vielfalt familialen
Zusammenlebens werden sieben primäre Lebensformen systematisch
eingeordnet.
Die
Familie hat sich in den vergangenen Jahrhunderten grundlegend verändert.
Im Rahmen der industriellen Revolution und der Entstehung der Städte
sind mehr und mehr Familien vom Land in die Stadt gezogen. Dies
hatte weit reichende Konsequenzen für die Struktur der Familie,
die sich aus verschiedenen Formen der Großfamilie zur heute
als Norm angesehenen Vater-Mutter-Kind-Familie gewandelt hat. Diese
uns vertraute Norm ist aber inzwischen selbst schon ein Stück
Geschichte geworden, denn die klassische vollständige Kernfamilie
ist heute nicht mehr die dominierende Familienform (vgl. Petzold,
1999).
Aus psychologischer Sicht
ist es unzureichend, diese Trends nur in Zahlen auszudrücken.
Es ist interessanter, die Qualität des Familienlebens in den
sich entwickelnden neuen Familienformen zu erkennen, z.B. Adoptivfamilie,
Ein-Eltern-Familie, Fortsetzungsfamilie, Großfamilie, Kernfamilie,
Kleinfamilie, Kommune, Lebensabschnittspartnerschaften, Living-apart-together,
Mehrgenerationenfamilie, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familie,
Pflegefamilie, SOS-Kinderdorf-Familie, Stieffamilie, Wohngemeinschaft,
Zweitfamilie, Zwei-Kern-Familien u.a..
Definitionen: Familienrecht
Wir können uns jedoch
auf die im heutigen öffentlichen Sprachgebrauch benutzten Definitionen
der Familie beschränken, die aus unterschiedlichen Richtungen
stammen. Weit verbreitet ist die Gleichsetzung von Familie mit der
vollständigen Vater-Mutter-Kind-Gemeinschaft. Im bürgerlichen
Recht werden Ehe und Familie verbunden bzw. sogar gleichgesetzt.
Diese Reduktion der Familie auf die Ehegemeinschaft mit Kindern
entspricht der konservativen Rechtsauffassung, wie sie z.B. von
dem Kölner Familienrechtler Wolfgang Rüfner (1989, S.
63) formuliert wurde: "Familie im Sinne des Grundgesetzes ist
nicht jede beliebige Gruppe, die sich zu einer familienähnlichen
Gemeinschaft zusammentut, sondern die Gemeinschaft von Eltern und
Kindern, also die Kleinfamilie moderner Prägung... Das Grundgesetz
sieht dabei die Ehe als alleinige Grundlage einer vollständigen
Familiengemeinschaft an." Der Familienpsychologe Klaus A. Schneewind
(1999) weist in der Kritik dieser Auffassung darauf hin, dass in
der öffentlichen Diskussion mit Bezug auf das Grundgesetz zu
dieser Definition häufig noch weitere Implikationen hinzukommen,
nämlich die lebenslange Permanenz der Ehe, Heterosexualität
(und zwar exklusiv!) sowie die Dominanz des Mannes als primärer
Ernährer.
Blutsverwandtschaft
Häufig wird bei der
Definition der Familie auf die Blutsverwandtschaft hingewiesen.
Im Sinne eines solchen genealogischen Ansatzes umfasst Familie verschiedene
Dimensionen verwandtschaftlicher Beziehungen. Im Volksmund wird
"Familie" und "Verwandtschaft" häufig synonym gebraucht. Im
heutigen Sozialrecht wird Familie dagegen nicht nur nach Verwandtschaft,
sondern auch nach dem gemeinsamen Lebensvollzug bestimmt. Dies stellt
insbesondere in der kommunalen Sozialpolitik die Grundlage für
viele Entscheidungen dar (vgl. Süssmuth, 1981). So wird Kindergeld
im Prinzip nur für leibliche Kinder gezahlt, unabhängig
davon, wo sie tatsächlich leben. Im gleichen Sinne bezieht
das Bundessozialhilfegesetz weitere Verwandte in die Berechnung
mit ein, und zwar Verwandte ersten Grades auch dann, wenn sie nicht
im selben Haushalt leben. Das gemeinsame Zusammenleben in einem
Haushalt ist in dieser Definition also sekundär.
Statistik
Dagegen basiert die Statistik
des Statistischen Bundesamtes auf einer dreifachen Unterscheidung
aller Haushalte der Gesellschaft in (1) öffentliche Haushalte,
(2) Privathaushalte im Allgemeinen und (3) solche mit Kindern. Privathaushalte
umfassen "Personengemeinschaften, die gemeinsam wohnen und wirtschaften,
auch Einzelpersonen, die alleine wohnen und wirtschaften (nicht
aber Anstalten)" (Statistisches Bundesamt, 1995). Familien unterscheiden
sich dann nur noch dahingehend, dass ledige Kinder in diesem Haushalt
leben müssen: "Elternpaare bzw. alleinstehende Elternteile
zusammen mit ihren im gleichen Haushalt lebenden ledigen Kindern
gelten im Folgenden als 'Familie'" (ebda.). Ob diese Menschen
juristisch gesehen verheiratet sind oder nicht, oder ob sie intime
Beziehungen haben, interessiert die amtliche Statistik nicht, wenn
Aussagen über die Familie getroffen werden sollen.
Psychologie
Aus psychologischer Sicht
ist es unerheblich, ob es sich juristisch um eine Ehe oder um eine
nichteheliche Zweierbeziehung handelt. Der Familienpsychologe Voss
(1989) betrachtet daher die Familie als Sonderform einer sozialen
Beziehung zweier Menschen, die sich durch eine spezifische Bindungsqualität
von anderen Beziehungen unterscheidet. Die "Beziehungskiste" der
intimen Bindung wäre dann das, was psychologisch die Familie
ausmacht. Für diese besondere Bindung in der Paarbeziehung
kann man auch den psychologischen Begriff der Intimität benutzen
und nach Schneewind (1987, 1999) die Familie als eine "intime Lebensgemeinschaft"
definieren. Eine solche Definition auf psychologischer Grundlage
ist ein guter Ausgangspunkt, kann aber aus meiner Sicht für
ein tieferes Verständnis von Familie nicht als hinreichend
angesehen werden. Dabei beziehe ich mich auf bereits verbreitete
Konzeptualisierungen anderer Familienpsychologen und Familiensoziologen
(vgl. Petzold u. Nickel, 1989). In dieser wissenschaftlichen Diskussion
zum Begriff der Familie wurde betont, dass Familie auf keinen Fall
nur auf diese Basis der Intimität zweier Menschen beschränkt
werden kann, sondern die Sorge um die nächste Generation mit
einschließt.
Auf dem Hintergrund der
gesellschaftlichen Verantwortung im Rahmen des Generationenvertrags
wurde in diesem Sinne z.B. von der früheren Familienministerin
Süssmuth (1981) postuliert, dass ohne Kinder eine Zweierbeziehung
keine Familie ausmachen könne. Die Familiensoziologin Rosemarie
Nave-Herz (1989) nennt als eine solche Bedingung die "intergenerationellen
Beziehungen". Mit dieser Aussage wird im Sinne des Modells der "biologisch-sozialen
Elternschaft" als Basis der Familie betont, dass eine Familie im
Wandel der Gesellschaft selbst durch das Aufeinandertreffen verschiedener
Generationen geprägt wird. Vor einigen Jahren haben Petzold
und Nickel (1989) daher hervorgehoben, dass nicht allein die Existenz
von Kindern im familiären Leben, sondern generell das psychische
Spannungsfeld zwischen den Generationen zur Familie dazugehört.
Diese Beziehungen zwischen den Generationen sind nicht nur solche
zwischen den Eltern und ihren Kindern, sondern auch die der Eltern
zu ihren eigenen Eltern. Leben Menschen aus verschiedenen Generationen
in einer Gemeinschaft zusammen, dann macht dies den Kern einer Familie
aus. Damit wird die genealogische Definition erweitert, ohne auf
die juristische Form der Ehe Bezug zu nehmen.
Familie kann also aus psychologischer
Sicht als eine soziale Beziehungseinheit gekennzeichnet werden,
die sich besonders durch Intimität und intergenerationelle
Beziehungen auszeichnet (vgl. Petzold, 1999).
Innerhalb einer solchen
psychologischen Definition der Familie ist eine große Vielfalt
von Familienformen möglich. Dabei zählt nicht die statistische
Häufigkeit, vielmehr geht es darum, den verschiedensten Alternativen
familiären und familienähnlichen Lebens Raum zu gewähren.
Ich stütze mich dabei auf das ökopsychologische Modell
von Urie Bronfenbrenner (1981; 1986) Diese systemisch-ökopsychologische
Sichtweise wurde seit Ende der siebziger Jahre begründet und
ist auch in der deutschen Psychologie mit großem Interesse
aufgenommen worden. Bronfenbrenners Modell übernimmt zunächst
die in der Soziologie schon lange übliche Unterscheidung einer
Mikro- und Makro-Ebene, fächert aber diese beiden Ebenen noch
weiter auf, da das einzelne Individuum in einer mehrschichtigen
Umwelt lebt. Bronfenbrenner beschreibt fünf Ebenen, die er
als Subsysteme (Makro-, Exo-, Meso-, Mikro- und Chronosystem) bezeichnet.
Das Mikrosystem umfasst
die primäre Lebensform der Familie im engeren Sinne (bzw. in
all ihren möglichen Variationen). Zwischen dieser und dem Makrosystem
Gesellschaft findet das Individuum verschiedene vermittelnde Subsysteme
(vgl. Bronfenbrenner, 1986). Unter Berücksichtigung der für
die Familie relevanten Aspekte kann das ökopsychologische Modell
wie folgt skizziert werden:
- Das Mikrosystem ist das eingeschränkte
konkrete Umfeld, das unmittelbare System, in dem eine Person lebt.
Die heutige Kleinfamilie mit ihren dyadischen bzw. triadischen
Strukturen gilt als ein solches typisches Mikrosystem. Die Ökopsychologie
berücksichtigt jedoch nicht nur die personellen Beziehungen,
sondern auch physische und materielle Bedingungen, z.B. die Wohnverhältnisse.
- Das Mesosystem stellt die nächsthöhere
Ebene dar und beinhaltet die Bezüge zwischen zwei oder mehr
Mikrosystemen. Dabei stehen die Wechselbeziehungen im Vordergrund.
Im Hinblick auf die Familie umfasst das Mesosystem z.B. Beziehungen
zwischen der eigenen Kernfamilie und der Familie der Eltern, zwischen
der Kernfamilie und dem System der Tagesbetreuung des Kindes oder
zwischen der Kernfamilie und der Schule des Kindes.
- Das Exosystem besteht aus einem
oder mehreren Mikro- bzw. Mesosystemen, denen das Individuum nicht
als handelnde Person angehört, die aber indirekt mit dem
Individuum in Wechselwirkung stehen. Dies ist z.B. für das
Vorschulkind die von den älteren Geschwistern besuchte Schule
oder für die Hausfrau die berufliche Welt ihres Mannes.
- Das Makrosystem bezieht sich als
höchstes System auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge,
wie z.B. die Rahmenbedingungen für die Erziehung von Kindern,
Möglichkeiten zu familienergänzenden Betreuungsformen
oder die allgemeinen Festlegungen für berufliche Arbeit (Ganztagsarbeit
als Norm, Achtstundentag usw.). Darüber hinaus gehören
auch allgemein gesellschaftlich geteilte Rollenerwartungsmuster
(Väter als "Brötchenverdiener", Mütter als "Hausfrauen")
zum Makrosystem.
- Mit dem Chronosystem, wie es von
Bronfenbrenner (1986) ergänzend eingeführt wurde, wird
zusätzlich die Zeitdimension einbezogen, da sie für
das Verständnis von Entwicklungsprozessen unabdingbar ist.
Mit Hilfe dieser Dimension wird nun auch die Entwicklung familiärer
Zusammenhänge in Abhängigkeit vom Alter beschreibbar.
Auf einer solchen Grundlage
beinhaltet die folgende ökopsychologische Systematik der Familie
zwölf Merkmale primärer Lebensformen, die sich auf vier
verschiedene Bereiche beziehen. Im Unterschied zu den offiziellen
Definitionen können mit diesen Merkmalen und den verschiedenen
Kombinationen alle Lebensformen von heute möglichen und realisierten
Familientypen tatsächlich beschrieben werden (vgl. Tabelle
1).
Tabelle 2
Ökopsychologische
Merkmale der Familie
|
A:
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Makrosystem)
|
1. ehelich oder nichteheliche Beziehung
2. gemeinsame oder getrennte wirtschaftliche Verhältnisse
3. Zusammenleben oder getrennte Wohnungen
|
B:
Soziale Verpflichtungen (Exosystem)
| 4. Verpflichtungen durch
Verwandtschaft oder Ehe
5. Selbstständigkeit oder Abhängigkeit des anderen
6. kulturell/religiös gleich oder unterschiedlich ausgerichtet
|
C:
Kinder (Mesosystem)
| 7. mit oder ohne Kind(er)
8. leibliche(s) oder adoptierte(s) Kind(er)
9. leibliche oder stiefelterliche Kindbeziehung
|
D:
Partnerschaftsbeziehung (Mikrosystem)
| 10. Lebensstil als Single
oder in Partnerschaft
11. hetero- oder homosexuelle Beziehung
12. Dominanz des einen oder Gleichberechtigung
|
Dieses Definitionsraster
für heutige Familienformen ermöglicht ein Verständnis
für eine große Vielfalt alternativer Familienformen,
indem zahlreiche Merkmale miteinander kombiniert werden können.
Allerdings gibt es auch einige wenige sich einander ausschließende
Charakteristika, z.B. die Kinderzahl, nicht aber der Status des
Kindes. In einer Familie können sowohl eigene Kinder als auch
Adoptivkinder oder auch Kinder aus früheren Partnerschaften
zusammenleben. Es mag auch Familien geben, die formal auf der Basis
der Heterosexualität aufgebaut sind, bei denen aber im realen
Leben zumindest der eine der beiden Partner auch oder ausschließlich
gleichgeschlechtlich orientiert ist. Selbst die von der Bundesstatistik
benutzte Gleichsetzung von Familien mit Haushalten ist nicht stimmig.
Ganz abgesehen von der expliziten Form des Living-apart-together
gibt es Familien, in denen z.B. der Mann auswärts arbeitet
und dann die Woche über in einem zweiten Haushalt real getrennt
lebt.
Zur Vielfalt der Familientypen
Alle möglichen Variationen
dieser Merkmale ergeben eine große Vielfalt von weit über
hundert verschiedenen Familientypen. Auch ein Blick auf die konkreten
Daten der Bevölkerungsstatistik belegt, dass im Zuge des Wandels
der Familie die Vielfalt der familiären Lebensformen zunimmt.
Es ist zwar immer noch so, dass die traditionelle Kleinfamilie nach
wie vor die dominierende Lebensform ist, sie ist aber nicht mehr
die häufigste primäre Lebensform in den westlichen Industrieländern.
In Deutschland besteht nur ein Drittel der Haushalte aus einer traditionellen
Kernfamilie – in über der Hälfte der Haushalte haben sich
die Menschen zu anderen Lebensformen entschlossen. Immer mehr Menschen
ziehen es vor, als alleinstehende Erwachsene einen eigenen Haushalt
zu führen.
Gestützt auf die Daten
zur Struktur der Haushalte in Deutschland (vgl. Mikrozensus des
Statistischen Bundesamts, 1995, 2000) werden die folgenden aktuellen
Trends deutlich:
- In weniger als einem Drittel der Haushalte
leben Paare mit Kindern, mehr als ein Drittel (36,0%) aller Haushalte
sind Single-Haushalte ohne Kinder.
- Im April 1999 gab es in Deutschland 7,1%
weniger Ehepaare mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren als
1991 (1991: 7,9 Mio., 1999: 7,4 Mio.).
- Mehr und mehr Kinder wachsen bei Alleinerziehenden
auf (1991: 1,5 Mio., 1999: 1,9 Mio.).
- Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften
hat mit 41% in den letzten Jahren stark zugenommen (1991: 1,4
Mio., 1999: 2,4 Mio.), d.h. jedes zehnte Paar lebt heute ohne
Trauschein zusammen.
Diese Zahlen verdeutlichen,
dass auch in Deutschland die klassische Form der Vater-Mutter-Kind-Familie
nicht als häufigste Lebensform bezeichnet werden kann. Dies
ist heute vielmehr der Single-Haushalt (in manchen Fällen auch
mit Kindern), der insbesondere in den Metropolen (in Deutschland
genauso wie in anderen westlichen Ländern) zur häufigsten
Haushaltsform geworden ist. Damit einher geht auch die Tendenz,
dass in den städtischen Kerngebieten das Leben mit Kindern
zur Ausnahme wird. So leben z.B. in den Innenstadtbezirken Münchens
nur in jedem siebten Haushalt Kinder. Bei dieser Entwicklung ist
zwar noch kein Trend zu einer anderen Alternative zur Familie zu
erkennen, vielmehr gibt es eine große Vielfalt von verschiedenen
primären Lebensformen. Aus psychologischer Sicht ist es auch
sehr wichtig zu beachten, dass diese Lebensformen nicht immer objektiv
unterscheidbar sind. So mag manch einer als Single wohnen, sich
aber als Mitglied einer Familie fühlen, die an zwei Orten zu
Hause ist usw. Die Charakteristika der verschiedenen Familienformen
sollten deshalb nicht nur an objektiven Merkmalen, sondern auch
an der subjektiven Sicht der Betroffenen festgemacht werden.
Als Perspektive zur Gruppierung
dieser ökopsychologischen Merkmale bietet es sich an, auf die
subjektive Sicht der Familienmitglieder selbst Bezug zu nehmen.
In der Familiensoziologie und der Familienpsychologie wurde in den
letzten Jahren über eine Neudefinition des Begriffs "Familie"
nachgedacht. Nyer et al. (1991) haben dazu vorgeschlagen, von "wahrgenommenen
Familien" auszugehen und die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen
von dem, was sie als Familie empfinden, in ein wissenschaftliches
Verständnis von Familie mit aufzunehmen. Der Familiensoziologe
Hans Bertram hebt dazu hervor: "Familienmitglieder sind meist
Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der Sicht der Befragten
sind jedoch nicht alle, die zur Familie gehören könnten,
auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden
Personen zur eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen
Verständnis nicht dazu gehören" (Bertram, 1991, S.
43). Es soll deshalb versucht werden, die individuelle subjektive
Sichtweise der Betroffenen in diese ökopsychologische Sicht
zu integrieren.
In Familie zu leben kann
aus der subjektiven Wahrnehmung heraus unterschiedlichste Orientierungen
im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Normen- und Wertvorstellungen
zur Grundlage haben. Die Analyse der verschiedenen subjektiven Sicht
familiären Lebens kann besser erfolgen, wenn man systemtheoretische
Überlegungen zu Grunde legt (vgl. Petzold, 1999). Dabei gehe
ich zunächst davon aus, dass der Sichtweise eines jeden Familienmitglieds
normative Regeln und ein gewisses normatives Ideal zu Grunde liegen.
Weiterhin herrscht in der öffentlichen Meinung das Gebot, Familie
sei durch Eheschließung zu begründen. Schließlich
wird der Familie gesellschaftlich die Aufgabe angetragen, durch
Elternschaft für die Existenz der nächsten Generation
zu sorgen. Die Familie könnte also durch drei systemische Dimensionen
gekennzeichnet werden.
Im Rahmen dieser Orientierung
wären dann drei Reinformen von Lebensentwürfen zu unterscheiden,
die ich als Dimensionen für ein Verständnis aufgreife:
- Normorientierung an einer idealen Vater-Mutter-Kind-Familie,
- Familienleben mit Ehe und Partnerschaft
als Basis,
- Familienleben als Realisierung von Elternschaft.
Diese drei systemischen
Dimension beinhalten – je nachdem, wie sie zusammenwirken – verschiedene
Auswirkungen auf die Art des je nach subjektiver Sichtweise unterschiedlichen
familialen Lebensentwurfs. Wenn man mit Hilfe dieser drei subjektiven
Dimensionen die oben skizzierten ökopsychologischen Merkmale
gruppiert, kann man aus der großen Zahl individueller Lebensentwürfe
die in
Tabelle 2 folgenden sieben primären Lebensformen herauskristallisieren.
Tabelle 2
Sieben primäre Lebensformen
|
|
Familienform
|
Beispiel
|
A
|
normale Kernfamilie
|
traditionelle Vater-Mutter-Kind-Beziehung
|
B
|
Familie als normatives Ideal
|
Alleinstehende mit Orientierung an
einem normativen Familienideal
|
C
|
kinderlose Paarbeziehung
|
unfreiwillig oder auf Grund eigener
Entscheidung kinderlose Paare
|
D
|
nichteheliche Beziehung mit Kindern
(aber mit normativem Familienideal)
|
moderne Doppelverdiener-Familie mit
Kind(ern)
|
E
|
postmoderne Ehebeziehung ohne Kinder
(aber mit Normorientierung)
|
auf Berufskarriere und intime Partnerschaft
bezogene Ehe ohne Kinder
|
F
|
nichteheliche Elternschaft ohne Orientierung
an einer Idealnorm
|
Wohngemeinschaften mit Kindern, Ein-Elter-Familien
|
G
|
verheiratete Paare mit Kindern (aber
ohne normatives Ideal)
|
alternativ orientierte Eltern, die
dennoch verheiratet sind
|
Die sieben primären
Lebensformen führen uns so zu einem besseren Verständnis
der anfangs skizzierten Pluralität der primären Lebensformen.
Diese reale Vielfalt familialen Lebens hat eine große Bedeutung
für die unterschiedlichen Formen der Mediennutzung (vgl. Petzold,
2000). Je nach Familientyp ergeben sich auch verschiedene Auswirkungen
auf die Sozialisation. Man muss daher mit Bedacht die unterschiedlichen
Möglichkeiten, Chancen und Gefahren der Mediennutzung der Kinder
und Jugendlichen einschätzen.
LITERATUR |
- Beck-Gernsheim, E.:
Was kommt nach der Familie? München: Beck 1998.
- Bertram, H.: Die Familie
in Westdeutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991.
- Bronfernbrenner, U.:
Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta
1981.
- Bronfenbrenner, U.:
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- Nave-Herz, R.: Gegenstandsbereich
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In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 36/1989/- S. 241-257.
- Petzold, M.: Entwicklung
und Erziehung in der Familie. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren
1999.
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Opladen: Leske & Budrich 2000.
- Peukert, R.: Familienformen
im sozialen Wandel. Opladen: Leske & Budrich 1998.
- Rüfner, W.: Familie
heute und alternative Lebensformen. In: Wingen, M. (Hrsg.): Familie
im Wandel - Situation, Bewertung, Schlußfolgerungen. Bad
Honnef: Verlag des Katholisch-Sozialen Instituts 1989, S. 58-91.
- Schneewind, K.A.:
Familienpsychologie: Argumente für eine neue psychologische
Disziplin. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie,
1/1987/1, S. 79-90.
- Schneewind, K. A.:
Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer 1999.
- Statistisches Bundesamt
(Hrsg.): Im Blickpunkt: Familien heute. Stuttgart. Metzler-Poeschel
1995.
- Süssmuth, R.:
Familie. In: Schiefele, H.; Krapp, A. (Hrsg.): Handlexikon zur
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S. 124-129.
- Voss, H. G.: Entwicklungspsychologische
Familienforschung und Generationenfolge. In: Keller, H. (Hrsg.):
Handbuch der Kleinkindforschung. Neuwied: Luchterhand 1989, S.
207-228.
DER AUTOR |
Matthias Petzold, Dr. phil., ist Professor
am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf.
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