Norbert Neuß
Leerstellen für
die Fantasie in Kinderfilmen –
Fernsehen und Rezeptionsästhetik
Fantasieräume werden nicht
nur in Büchern, sondern auch in der Kunst oder aber im Fernsehfilm
geschaffen. Sie entstehen in den Leerstellen, die RezipientInnen
zur Tätigkeit anregen. Diese Leerstellen können zum Beispiel
durch Metaphern, Symbole, direkte Ansprache, Wir-Gemeinsamkeit oder
Fantasie öffnende Fähigkeiten gezielt geschaffen werden.
Kann Fernsehen
die Fantasie von Kindern anregen? Diese Frage wird meistens mit
einer Gegenbehauptung beantwortet: Bücher seien dafür
prädestiniert, bei den Kindern bildliche Fantasien freizusetzen.
Wie ich im folgenden Artikel zeige, sind Filme dazu ebenfalls in
der Lage – jedoch sind die Anregungsmomente andere als ausschließlich
die Sprache. Dazu werde ich zunächst die literaturwissenschaftliche
Leerstellentheorie vorstellen, die wichtiger Bestandteil der Rezeptionsästhetik
ist. Ob auch Kinderfilme "Leerstellen" für die Fantasie lassen
(können), wird anschließend an Beispielen dargestellt.
1. Wer schaut auf die Bilder? – Konstruktivistische
Wahrnehmungsvorstellungen
Grundlegend für folgende Ausführungen
ist ein konstruktivistisches Kommunikations- und Wahrnehmungsverständnis,
das sich von Vorstellungen distanziert, die Wahrnehmung als Abbildung
und Kommunikation als Datentransport von A nach B beschreiben. Auch
auf die Rezeption von Filmen hatte die Abbildungsphilosophie wesentliche
Auswirkungen, weil davon ausgegangen wurde, dass bei allen Menschen
dieselben Bilder ankommen und im Gehirn gespeichert werden. Diese
Vorstellung hat einfache, technisch orientierte Modelle der Informationsvermittlung
hervorgebracht. Die übliche Vorstellung,
dass unsere Sinnesorgane die Tore zur Welt seien, durch die wir
Realität in Form von Informationen aufnähmen, wird nicht
nur von konstruktivistisch orientierten Wissenschaftlern bezweifelt.
Biologen, Gehirnforscher und Psychologen sind sich heute weitgehend
einig, dass das menschliche Gehirn gerade kein umweltoffenes Reiz-Reaktionssystem
ist, sondern die Wahrnehmung immer durch die bestehenden Vorerfahrungen
geleitet wird. Deshalb ist entscheidend, wer auf die Bilder
schaut. Dazu ein einprägsames Bildbeispiel des Hirnforschers
Gerhard Roth.1 Roth versuchte, mit einem Bild (s. Abb.
1) Versatzstücke im visuellen Gedächtnis von StudentInnen
zu aktivieren. Dabei sollten die BetrachterInnen des Bildes die
zunächst unzusammenhängenden Schwarzweißkonturen
zu einem stabilen, bedeutungsvollen Gesamtgebilde zusammensetzen.
Dies dürfte den meisten BetrachterInnen trotz Anstrengung Schwierigkeiten
bereiten. Nach längerem Umgang mit dem Bild und dem Wissen,
es ist eine Kuh, wird die Wahrnehmung stabilisiert und es wird unmöglich,
etwas anderes zu sehen als eine Kuh. Roth weist damit auf die besondere
Bedeutung des Vorwissens und der Vorerfahrung für die Wahrnehmung
hin.
Abb. 1
Was ist das? (Roth 1994, S. 240 f.) |
"Das Gedächtnis ist damit unser wichtigstes
Sinnesorgan." (Roth 1994, S. 242) Umweltereignisse legen folglich
ihre Wirkung auf das Gehirn nicht selbst fest, sondern der Mensch
legt die Wirkungen und Bedeutungen fest. Damit stehen der Mensch,
seine Erlebnisqualität und Wirklichkeitsaneignung im Mittelpunkt
der Betrachtung - und der Forschung.
2. Die Theorie der Leerstellen in den
Medienwissenschaften
Bezeichnenderweise sind die wichtigsten Vorüberlegungen
zum Zusammenhang von Erzählschichten und Rezeptionsspielraum
bedeutend älter als die Reetablierung der Rezeptionsforschung
in Deutschland. Der polnische Philosoph Roman Ingarden hat sie 1930
entwickelt, jedoch wurde sein Buch "Das literarische Kunstwerk"
erst nach der Übersetzung 1968 zur Kenntnis genommen.2
Als Schüler von Edmund Husserl phänomenologisch orientiert,
begreift Ingarden den literarischen Text als mehrschichtiges Gebilde,
dessen einzelne Schichten in einem harmonischen Verhältnis
zueinander stehen.3 Aufgrund der
Selektivität des Epischen sei das literarische Kunstwerk schematisch
organisiert: "Es ist nämlich nicht möglich, mit Hilfe
einer endlichen Zahl Wörter, bzw. Sätze, auf eindeutige
und erschöpfende Weise die unendliche Mannigfaltigkeit
der Bestimmtheiten der individuellen, im Werk dargestellten Gegenstände
festzulegen; immer müssen irgendwelche Bestimmtheiten fehlen."
(Ingarden 1975, S. 45) Von dieser Beobachtung ausgehend, prägt
Ingarden den Begriff der Unbestimmtheitsstellen. "Die Seite
oder Stelle des dargestellten Gegenstands, von der man auf Grund
des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand
bestimmt ist, nenne ich eine ‘Unbestimmtheitsstelle’." (Ingarden
1975, S. 44) Den LeserInnen ist es nun aufgegeben, relevante Unbestimmtheitsstellen
zu ermitteln und dann zu entscheiden, welche davon auszufüllen
und welche zu belassen sind. Schließlich habe der Leser durch
adäquate Konkretisation der relevanten und tatsächlich
auszufüllenden Unbestimmtheitsstellen die Rekonstruktion des
Textes zu leisten. Ingarden kommt das große Verdienst zu,
die Unbestimmtheit literarischer Texte auf die RezipientInnen bezogen
zu haben und erwies sich so als anschlussfähig für rezeptionsästhetische
Fragestellungen.
Die bedeutendste Weiterentwicklung seines
Konzeptes stammt von Wolfgang Iser, der den phänomenologischen
Ansatz Ingardens kommunikationstheoretisch und sprachpsychologisch
fundierte. Iser definiert die Unbestimmtheit literarischer Texte
nicht mehr nur als Merkmal dieser Texte selbst, sondern ausdrücklich
als "Wirkungsbedingung". (Iser 1975a, S. 228 ff.) Für ihn ist
das Werk selbst nicht bedeutungstragend, sondern "Bedeutungen literarischer
Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind
das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text
versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation
vorbehalten bleibt." (Iser 1975a, S. 229) Bei Iser wird "die Sinnkonstitution
des Textes zu einer unverkennbaren Aktivität des Lesers" (Iser
1972, S. 7), dem der Text "einen Spielraum von Aktualisierungmöglichkeiten"
gewähre. (Iser 1975a, S. 230) Dieser Spielraum manifestiert
sich in so genannten Leerstellen, die er als "das wichtigste
Umschaltelement zwischen Text und Leser"4 bezeichnet.
Die Leerstellen machen laut Iser die Appellstruktur der Texte aus.
Die Ausfüllung der Leerstellen ist aber nicht ins Belieben
des Rezipienten gestellt, sondern hat nach "Anweisung" (Iser 1976,
S. 7) des Textes zu erfolgen. Diese Anweisung erfolgt derart, dass
die Konkretisation "zwar von den Strukturen des Textes gelenkt,
aber von ihnen nicht vollkommen kontrolliert" wird. (Iser 1976,
S. 45) Damit wendet sich Iser von einem einfachen Stimulus-Response-Modell
literarischer Kommunikation ab und postuliert stattdessen ein interaktives
Modell. Um den stets gegebenen, aber nicht vollständig determinierenden
Anweisungscharakter der Texte, ihre "Appellstruktur", zu verdeutlichen,
hat Iser auf das Konzept des impliziten Lesers5
zurückgegriffen, das bereits bei Umberto Eco (Eco 1987, S.
64) angelegt ist.
Ähnlich der Fernsehrezeptionsforschung
wurde Isers Leerstellenkonzept von Anhängern der strukturalistischen
Hermeneutik ein radikaler Subjektivismus vorgeworfen. Eine am Strukturalismus
orientierte Sichtweise versteht Texte (auch Filme) als autonome,
geschlossene Gebilde mit einer eingeschriebenen Bedeutung. Sie herauszufinden
und zu diskutieren, sei Aufgabe der Rezipienten. Diese werkimmanente
Vorgehensweise sieht über widersprüchliche Verstehensweisen,
Mehr- oder Vieldeutigkeiten und Rezipienteneinflüsse hinweg.
So verlangt Hans Georg Gadamer, das Kunstwerk "ins Klare und Offene
seiner eigentlichen Bedeutung" (Gadamer 1975, S. 113) zu stellen.
Auch Arthur C. Danto schwebt eine Interpretation von Kunstwerken
vor, die "sich den Zwängen von Wahrheit und Falschheit" (Danto
1996, S. 56) beugt. Im Sinne der klassischen Ästhetik werden
Kunstwerke als objektiv, überzeitlich und autonom angesehen,
ohne dass der Rolle der RezipientInnen Beachtung geschenkt wird.
Problematisch erscheint auch, dass eine am Strukturalismus orientierte
Sichtweise normative Vorgaben vornimmt, denn die "richtigen" Bedeutungen
von Texten können nur von Experten herausgearbeitet werden.
Die vielschichtigen Lesarten der RezipientInnen müssen zwangsläufig
in eine Differenz zu dieser "vorgegebenen Bedeutung" treten, weil
sie in ihrem laienhaften Verständnis dem Text nicht gerecht
werden bzw. gerecht werden können.
Durch die Betrachtung des "Textes" als semantisch
offenes Kunstwerk und der Entdeckung des Bedeutung erzeugenden Rezipienten
gewannen theoretische und praktische Ansätze der Rezeptionsforschung
Anfang der 80er-Jahre an Relevanz. In der wegweisenden Literaturwissenschaft
setzte sogar der Trend zu einer radikal-konstruktivistischen Rezeptionstheorie
ein, mit Siegfried J. Schmidt als ihrem prominentesten Vertreter.
Dieser Richtung, auch als empirische Literaturwissenschaft bezeichnet,
geht es darum, das Textverständnis der RezipientInnen zu untersuchen.
Die so genannte Rezeptionsästhetik,
die hauptsächlich von Jauß,7 Iser8
und Kemp9 geprägt wurde, nimmt dabei - wie schon
erwähnt - eine vermittelnde Position zwischen radikal-konstruktivistischen
und strukturalistischen Ansätzen ein. Sie hebt hervor, dass
Kunstwerke prinzipiell auf die BetrachterInnen hin ausgelegt sind
und sich ihre Bedeutungen erst im subjektiven Prozess der Rezeption
konstituieren. Durch eingebaute Leerstellen fordert der Text dazu
auf, die frei gelassenen Bedeutungszusammenhänge mit Gedanken
und Fantasien zu füllen. Der Betrachter "ist disponiert, nicht
nur durch die ihm und dem Werk gemeinsame Umgebung, sondern auch
durch innere Voraussetzungen - er hat als Betrachter eine spezifische
Gegenwart und Geschichte." (Kemp 1986, S. 203) Kunstwerken sind
Auslegungsspielräume eigen, die dem Betrachter die subjektive
Annäherung an die fremde Realität erleichtern, weil sie
Raum geben für Projektion, Einfühlung, Identifikation,
aber auch Abgrenzung. Die Leerstellen sind also Beteiligungsangebote
für RezipientInnen, die diese mit subjektiven Sinngebungen,
eigenen Lebenserfahrungen und Fantasien füllen.
Schauen wir uns dazu das Gemälde "Frau
am Fenster" von Caspar David Friedrich an (s. Abb. 2). Wo befinden
sich in diesem Bild die Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen? Die wohl
eindeutigste Leerstelle kommt durch die Rückenansicht zustande.
Wir wissen nicht, welchen Gesichtsausdruck die Frau hat. Lächelt
sie einer Nachbarin zu oder schaut sie sehnsüchtig, vielleicht
sogar weinend ihrem zur See fahrenden Mann nach? Beim Betrachten
dieses Bildes fordert uns die Rückenansicht geradezu heraus,
uns unsere eigenen Gedanken zu machen und die Szene sinnvoll zu
ergänzen.
Abb. 2
Caspar David Friedrich: Frau am Fenster |
Ebenso wie in der Literaturwissenschaft wurde
auch in der medienwissenschaftlichen und medienpädagogischen
Forschung das Film-Rezipienten-Verhältnis neu überdacht
und auch hier die Rolle des aktiven Rezipienten hervorgehoben. (Vgl.
Milos 1994) Stand in der medienwissenschaftlichen Forschung zumeist
der Inhalt des Films im Interesse der Betrachtung, fanden nun die
Rezipienten mehr Aufmerksamkeit. Insbesondere wurde untersucht,
wie z.B. Fernsehen in den Alltag eingebunden ist, welche Nutzungsmotive
bei der Auswahl und Rezeption eine Rolle spielen und welche Bedürfnisse
dadurch befriedigt werden. (Vgl. Merten 1991, S. 62 ff.) Dieser
Paradigmawechsel von einer Medienwirkungs- zu einer Mediennutzungsforschung
hatte neben der theoretischen Wende auch zur Folge, dass neue Forschungsmethoden
konzipiert werden mussten, die dem Untersuchungsgegenstand (Medienaneignung)
gerecht wurden. Auch in der Medienpädagogik setzte so ein Wechsel
von quantitativen zu qualitativen Methoden ein. Denn ob und welche
Fantasien Kinder in die Leerstellen hineinlegen und wie diese durch
die filmische Vorlage "gesteuert" sind, lässt sich nur durch
die Beschreibung der Leerstellen und der geäußerten Fantasien
feststellen.
3. Leerstellen in Kinderfilmen
Mit Bezug auf die Leerstellentheorie interessierten
also folgende Fragen:
- Wo lassen sich Leerstellen in der Struktur
von Kinderfilmen finden?
- Wo wird an die Rezipienten appelliert,
sich "einzubringen"?
- Wie kommt es zu einer Ich-Beteiligung
(Fantasie) beim Fernsehen?
Vorweggenommen werden kann, dass sich die
Leerstellen in allen Bestandteilen von (Kinder-)Filmen (Sprache,
Musik, Geräusche, Dramaturgie, Schnitt, Geschichte usw.) feststellen
und beschreiben lassen. Da Filme ein dynamisches Gebilde gleichzeitiger
Informationen sind, lassen sich die Leerstellen nicht immer analytisch
trennen, sondern kommen sogar gerade durch die Gleichzeitigkeit
und Kombination der Geräusche, Bilder, Sprache und Handlungen
zustande.
Leerstellen entstehen durch imaginäre
Zeit und imaginären Raum
"Es war einmal...", mit diesen Worten beginnen
viele Märchen. Dieser Anfang macht deutlich, dass die folgende
Geschichte bereits längere Zeit zurück liegt. Allerdings
bleibt offen, wann sich die Geschichte abgespielt haben könnte.
Auch im Kinderfernsehen und in Kinderfilmen gibt es solche einleitenden
Rezeptionshinweise, die die Geschichte einer imaginären Zeit
und/oder einem imaginären Raum zuweisen. So hören wir
im Vorspann von Biene Maja: "In einem unbekannten Land, vor
gar nicht allzu langer Zeit, war eine Biene sehr bekannt ...." und
bei den Teletubbies heißt es: "Hinter den Hügeln
und keinem bekannt, da liegt das Teletubbyland."
Solche Einleitungsformeln sind Rezeptionsanweisungen, bei denen
wir eingeladen werden, uns in eine andere zeitlich-räumliche
Wirklichkeit zu begeben. Wie diese Wirklichkeit ist bzw. wann diese
Geschichte spielt, bleibt unserer Fantasie überlassen. Solche
Formeln dienen also dazu, den Zuhörer oder Zuschauer darauf
einzustimmen, dass die Geschichten, die zu sehen und zu erfahren
sind, nicht in das Bezugssystem unserer profanen Alltagserfahrung
einzuordnen sind. Dass sie aber dennoch relevant sind, bringt dann
die ritualisierte Märchenendformel "und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heute" zum Ausdruck.
Leerstellen entstehen durch Sprachbilder
und Metaphern
Folgender Liedtext wird zu Beginn der Feuerstein
Junior-Sendung Abenteuer mit Pebbles und Bamm Bamm gesungen:
"Stell’ dir vor, wir sitzen auf ’ner Wolke rum, und dann fliegen
wir auf einem rosa Dino rum. Das ist leicht, kinderleicht. Ich sag’
dir warum, das ist die Welt von Pebbles und Bamm Bamm. Wir fliegen,
wir fliegen, auf den Flügeln unserer Fantasie, Pebbles und
Bamm Bamm zeigen dir, wie’s geht. So machen es Pebbles und Bamm
Bamm. Wir fliegen, wir fliegen, unsere Träume sind bunt und
sie werden schnell wahr. Alles geht mit Pebbles und Bamm Bamm."
Dazu sehen wir einen rosa Dino, auf dem zwei Kinder durch die Luft
fliegen, sich verwandeln und in eine bunte Zeichentrickwelt eintauchen.
Können wir sofort sagen, wie es aussieht, wenn wir auf den
"Flügeln unserer Fantasie" fliegen? Hier ist keine
logische Annäherung möglich, sondern man kommt nur durch
ein assoziatives Verstehen weiter. Vielleicht fallen uns folgende
Assoziationen ein: Fantasie beflügelt; zur Fantasie hinfliegen,
sich gedanklich treiben lassen; sich über die Realität
hinwegsetzen oder der eigenen Fantasie freien Lauf lassen. Aber
genau in dieser assoziativen Verstehensweise liegen eben die Leerstellen.
Jeder von uns mag unter den "Flügeln unserer Fantasie" etwas
anderes verstehen und doch, würde man die spontanen Assoziationen
vergleichen, wären sie nicht beliebig. Solche Metaphern
sind Brücken zwischen Bildern und Begriffen
und vermitteln zwischen dem bildlichen und dem begrifflichen Denken.
Dabei verknüpfen sie sehr unkonventionell materielle mit immateriellen
Gegebenheiten bzw. psychologische mit gegenständlichen Dingen
(messerscharfer Verstand, lupenreines Gewissen usw.). Alltägliches
wird mit Ungewöhnlichem so arrangiert, dass die Metaphern eine
Form der Poesie darstellen. Zweifelsohne appellieren diese Sprachbilder
an uns, sie zu interpretieren. Metaphern sind sprachliche
Konstruktionen von Ähnlichkeiten und sie fragen nach dem "Wie
ist etwas": Wie ist der Rasen? Wie ist ein samtiger Pullover? Auch
Kinder konstruieren solche Ähnlichkeiten zwischen Dingen, weil
ihnen die "echten Begriffe" noch fehlen und sie ohnehin dem magischen
Denken näher sind als Erwachsene.
Leerstellen entstehen durch die Verwendung
von bildlichen Symbolen
Film ist im doppelten Sinne symbolisches
Material. Zum einen komprimiert er komplexe Geschichten (z.B. ganze
Biografien), indem er eine Auswahl von relevanten Ereignissen zeigt.
Um dem Zuschauer bei der Entschlüsselung dieser Komprimierung
zu helfen, verwendet der Film zum anderen auch bildliche Symbole,
die für sich genommen "ganze Geschichten" und Bezüge zu
anderen Geschichten (Intertextualität) herstellen. Ein wesentliches
Kennzeichen von Symbolen ist, dass sie mehr- und doppeldeutig sind.
Während also eine rote Ampel ein kulturell eindeutiges Zeichen
mit klarer Bedeutung ist (Anhalten), fordern Symbole geradezu die
Interpretation heraus. Diesen Aufforderungscharakter von bildlichen
Symbolen wollen wir uns an folgenden zwei Bildern aus dem Film
König der Löwen verdeutlichen. Bevor Simba aus seinem
angehenden Reich von seinem bösen Onkel durch eine List vertrieben
wird, sitzt er mit seinem Vater auf einem Felsen (s. Abb. 3).
Abb. 3
König der Löwen: Vater und Sohn |
Mufasa erklärt seinem Sohn: "Sieh es
dir an, Simba. Das ist unser Königreich, alles, was das Licht
berührt. Die Herrschaft eines Königs geht auf und unter
wie die Sonne. Eines Tages, Simba, geht die Sonne meiner Herrschaft
auch unter – und mit dir als neuer König wieder auf." Die in
diesen Sätzen verwendete Metapher (Sonne meiner Herrschaft)
wird durch eine entsprechende bildliche Symbolik unterstützt.
Auffällig sind an diesem Standbild die Größenverhältnisse
zwischen Vater und Sohn sowie ihre Rückenansicht. Bedeutungsvoller
erscheint aber die Interpretation der entstehenden Spannung aus
Bild und Text. So besteht zwar noch die Gewissheit, dass die Sonne
hinter dem Gesichtsfeld von Mufasa steht, aber gleichzeitig können
wir erahnen, dass seine Herrschaft bald zu Ende gehen wird, denn
die Sonne ist kurz vorm Untergehen. Dabei
wird durch den Lauf der Sonne auf das mythische Verständnis
von zirkulärer Herrschaft (nicht Linearität) hingewiesen.
Noch symbolisch "aufgeladener" erscheint Abbildung 4. Simba, der
in die Fremde geflohen ist und sich nicht an seine ursprüngliche
Identität (Aufgabe als Thronfolger und Herrscher) erinnert
oder erinnern möchte, wird an einem See mit seinem Spiegelbild
konfrontiert. Dabei kommt es zu einem Dialog zwischen ihm und seinem
Spiegelbild, wobei das Spiegelbild mit der Stimme des Vaters spricht:
"Simba, Du hast mich vergessen." Simba antwortet: "Nein, das könnt’
ich nicht." Das Spiegelbild fährt fort: "Du hast vergessen,
wer du bist und somit auch mich. Hör’
auf dein Herz, Simba, du bist zu etwas anderem bestimmt. Du musst
deinen Platz im ewigen Kreis einnehmen. Vergiss’
nie, wer du bist. Du bist mein Sohn, der wahre König. Du musst
dich wieder daran erinnern." Das Spiegelbild wird hier als Symbol
für uneingeschränkte Ehrlichkeit und für den zu Bewusstsein
Kommenden benutzt.
Abb. 4
König der Löwen: Das Spiegelbild |
So hat z.B. auch Jacques
Lacan den Begriff des Spiegels als ein Zu-sich-selbst-Verhalten
des Subjekts in seinem vielbeachteten Artikel10 "Das
Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion" hervorgehoben. Auch
im weiteren Sinne lässt sich das Spiegelbild als eine symbolische
Reflexion der Innenwelt bezeichnen, die nicht von der Außenwelt
angestoßen wird. Sicher wissen Kinder nichts über Lacan,
aber dennoch sind sie sehr sensibel für die archetypischen,
immer wiederkehrenden Symbole und Themen in Entwicklungsgeschichten.
Dabei verdeutlichen die bildlichen Symbole die thematischen Perspektiven
von Kindern und beziehen sie auf diese Weise in die Geschichte identifikatorisch
ein. Zu solchen thematischen Perspektiven gehören die Auseinandersetzung
mit Gerechtigkeit und Moral, Alleinsein oder Trennung, Tod und Sterben,
soziale Beziehungen, die eigene Geschlechtlichkeit, Kleinsein und
Großwerden.
Leerstellen entstehen durch das Herstellen
von "Wir-Gemeinsamkeit" und aktiver Ansprache des Rezipienten
Untersucht man den folgenden Einleitungstext
zur Pokémon-Serie, stößt man gleich auf
zwei interessante Aspekte: "Jeder von uns möchte Meister
werden, jeder will beweisen, was er kann; jeder träumt davon,
der Allererste auf dem Weg ganz nach oben zu sein. Jeder Versuch
bringt dich schon ein Stückchen weiter; was du erreichst, deine
Chance beim nächsten Mal. Diese Welt, in der wir leben, ist
für uns noch völlig neu, diese neue Welt haben wir noch
nicht erforscht, zieh’ mit uns los und schnapp’ sie
dir - gib’ dein Bestes, jederzeit. Diese Welt. in der wir
leben - zieh’ mit uns los und schnapp’ sie dir - gib’
dein Bestes, jederzeit." Zum einen fällt auf, wie die
kleinen ZuschauerInnen auch sprachlich in die Pokémon-Welt
mitgenommen werden. Dabei werden die Kinder aktiv aufgefordert,
sich einzubringen und mit den Filmfiguren in die "völlig neue
Welt" loszuziehen. Die Filmfiguren haben also keinen Erfahrungsvorsprung
(was Kinder ja im Alltag eher erleben), sondern sie sind gleichberechtigte
Abenteurer, die sich keine Sorge zu machen brauchen, denn man kann
ja alles lernen. Die aktiven Appelle zur Beteiligung am Filmgeschehen
und das Herstellen von "Wir-Gemeinsamkeit" sorgen hier für
eine starke parasoziale Interaktion (Horten/Wohl 1956, S. 215 ff.).
Wie jedoch die gedankliche Beteiligung im Einzelnen aussieht, in
welche Rollen die Kinder sich hinein fantasieren oder bei welchen
Handlungen sie ihren Mut zeigen können, bleibt offen und unausgefüllt.
Leerstellen entstehen durch Fantasie
öffnende Fähigkeiten
Natürlich sind es auch die Fähigkeiten
der FernsehheldInnen, die zur fantasievollen Beteiligung einladen.
Hören wir den Einleitungssong der Bibi Blocksberg-Sendungen:
"Da ist ja Bibi! Sie fliegt auf ihrem Besen! Hallo Bibi! Hallo Bibi!
Hallo Leute! Schön, dass ihr da seid! Ich hex’ uns was
Tolles, ja? Hex’ Hex’. Bibi Blocksberg, die kleine
Hexe, kann so manches, wovon ihr träumt, und sie wird euch
immer helfen, denn sie ist euer bester Freund. Bibi Blocksberg,
du kleine Hexe, komm’ und zeig’ uns was du kannst.
Wir mögen deine Streiche, wie du hext, wie du lachst, wie du
tanzt! Komm zu uns, Bibi Blocksberg, sei unser Freund, Bibi Blocksberg,
wir sind gespannt, Bibi Blocksberg, was du heute wieder machst."
Wie es aussieht, wenn jemand Fahrrad fährt oder einen Ball
wirft, ist nicht nur Kindern bekannt. Was aber passiert, wenn jemand
hext oder zaubert, ist schon weitaus offener. Das reizvoll Offene
an vielen Kinderfilmen sind gerade die Fähigkeiten der HeldInnen
sowie deren Resultate. Hexen, Fliegen, Unsichtbarsein, Zaubern,
Sich-Verwandeln oder Untertauchen sind Handlungen, die die Fiktionalität
des Films unterstreichen, die aber auch dazu einladen, diese magischen
Handlungen in die eigene Erfahrungswelt einzubeziehen. So hat z.B.
die 8-jährige Saskia nach einer Fantasiereise ein Bild gezeichnet
(s. Abb. 5), das sich im Nachhinein als Medienspur (Neuß 1999c,
S. 62 ff.) zu Bibi Blocksberg herausstellt (s. Abb. 6).
Abb. 5
Saskias Zeichnung |
Folgender Text gibt eine Zusammenfassung
des Interviews mit Saskia über ihre Zeichnung wieder: "Ich
bin mit meiner Mutter im Dschungel. Wir stehen da so und schauen
uns alles an. Da gibt es ganz viele Tiere. ’Ne kunterbunte Schlange,
einen Affen, eine Spinne, einen Vogel, einen Schmetterling, einen
Pfau und einen Papagei. Und natürlich noch viele andere, aber
die sehen wir gerade. Und natürlich gibt’s da auch Bäume
und Gras und so. Aber es gibt keine Menschen und überhaupt
gibt’s da gar nix Böses. Wenn’s geht, würde ich z.B. da
gerne mal einen Hasen streicheln oder einen Papagei füttern.
Ja, in den Dschungel, da würd’ ich gern mal gehen."
Deutlich wird an den Aussagen von Saskia, dass sie die Sendung
sowie deren Inhalte nicht einfach "nacherzählt", sondern darin
Anregungen für die eigenen Fantasien und Wünsche bekommt
(vgl. Götz u.a. in diesem Heft).
Leerstellen entstehen durch die Wahl der
Perspektive
Wie bereits an dem Bild von Caspar David
Friedrich zu sehen war, können Leerstellen durch die Bildperspektive
entstehen. In Filmen entstehen Leerstellen auch durch die Montage.
Um aber z.B. eine Parallelmontage zu verstehen, also die Zeit- und
Raumsprünge zu erkennen, müssen Kinder bereits eine Fernsehlesefähigkeit
erworben haben. Insofern kommt das Erzeugen derartiger Leerstellen
nicht den entwicklungsspezifischen Wahrnehmungsbesonderheiten von
Kindern entgegen.11
Abb. 6
Bibi im Dschungel |
Leerstellen entstehen durch Abstraktion
Wer hat nicht schon mal auf dem Rücken
in die Wolken geschaut und dann darin die tollsten Figuren und Formen
gesehen? Ähnlich ging es wohl auch den Vorschulkindern, denen
ein Experimentalfilm vorgeführt wurde, in dem sich nur weiße
Kreise auf einem schwarzen Hintergrund unterschiedlich schnell bewegen
(s. Abb. 7). Dabei überschneiden sie sich auch mal, so dass
sehr verschiedene, zunächst bedeutungsfreie Formen entstehen.
Die Kinder fantasieren in den Stummfilm einen "umgekippten Traktor,
einen Schneemann, eine Dose, eine Rakete, Bälle und einen Kampf"
hinein. Sie nutzen diese Bilder also als Anlässe für das
Erzeugen von Fantasien und eigenen Bedeutungszuschreibungen. Sicher
würde dieser Experimentalfilm kein Quotenhit bei den Kleinen.
Deutlich soll nur werden, dass in der Tendenz zur Reduktion - also
nicht alles im Detail zu zeigen und zu erklären - auch ein
Reiz liegen kann. Hinzu kommt noch, dass dieser Film ohne Schnitte
auskommt und so Raum für innere Verbalisierungen12
lässt.
Natürlich können nicht nur Bilder,
sondern auch Geräusche abstrakt und fantasiebelebend sein.
Beispielsweise gibt es bei Jim Knopf eine Szene, bei der
Lukas und Jim zur Drachenstadt fahren wollen. Um dorthin zu gelangen,
müssen sie durch einen langen dunklen Tunnel fahren, in dessen
Mitte "der Mund des Todes" ist. Während der Fahrt sieht man
nur die beiden Lichter der Lokomotive Emma (s. Abb. 8) und man hört
sehr unheimliche Geräusche (Heulen, Pfeifen des Windes, Stöhnen,
Stimmen usw.). In dieser Szene sind es gerade die abstrakten visuell-akustischen
Informationen, die bei Kindern starke – zum Teil auch ängstigende
(Neuß 1999b, S. 205 ff.) - Fantasien hervorrufen können.
Nicht zuletzt können auch Figuren und
MedienheldInnen in gewisser Weise abstrakt bzw. deutungsoffen sein.
So wird z.B. Wickie von Wickie und die starken Männer
(s. Abb. 9) von Kindern mal als Junge und mal als Mädchen interpretiert.
Je nachdem, wie man diese Figur füllt, entstehen in dem Film
ganz neue Perspektiven und Beziehungskonstellationen. Wickie ist
also hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Merkmale eher androgyn.
Ich selbst habe Wickie natürlich immer als Jungen gesehen.
Abb. 7
Ein umgekippter Traktor? |
Abb. 8
Lokomotive Emma |
Abb. 9
Junge oder Mädchen? |
4. Fantasie von Kindern im Alltag
Wie wir gesehen haben, kann Fernsehen die
Fantasie von Kindern auf sehr unterschiedliche Weise anregen. Dies
lässt sich natürlich nicht nur an inhaltsanalytischen
Betrachtungen zeigen, sondern auch, indem man Kinder im Alltag aufmerksam
beobachtet. (Neuß 1999a, S. 11 ff.) Sie schlüpfen in
die Rolle ihrer Lieblingshelden, bearbeiten unterschiedlichste eigene
Themen mit Hilfe ihrer Fernseherlebnisse und benutzen die Sprache,
aber auch andere Fernsehsymbole, um Kommunikation und Gemeinschaft
mit anderen Kindern herzustellen. Gerade wenn Erwachsene bemerken,
dass Kinder sich mit ihren Spielen, Fantasien und Assoziationen
auf Inhalte des Fernsehens beziehen, wird die kindliche Tätigkeit
zumeist als "Nachahmung" abgewertet. Wenn Erwachsene (Eltern und
PädagogInnen) die fernsehbezogenen Fantasieäußerungen
nicht als eigene Fantasieleistung der Kinder deuten können,
so liegt das weniger an den Kindern, als vielmehr an dem festen
Deutungsmuster der Erwachsenen "Fernsehen schadet der Fantasie".
Dass dies jedoch keineswegs so ist, hat dieser Artikel deutlich
gezeigt.
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ANMERKUNGEN |
1 Roth,
Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit: Kognitive Neurobiologie
und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a. M. 1994, S.
240 f.
2 Vgl. dazu Steinmetz, Horst: Rezeption und Interpretation.
Versuch einer Abgrenzung. In: Labroisse, Gerd (Hrsg.): Beiträge
zur Methodendiskussion. Amsterdam 1974, S. 37-83, hier S. 39.
3 Vgl. Ingarden 1960, S. 261-303; 1968, S. 49-63, 312-345,
413-439; 1975.
4 Iser 1975a, S. 248. Vgl. Warning (1975, S. 31): "Die
ästhetische Erfahrung verdankt sich nicht mehr einer von den
metaphysischen Qualitäten ausgelösten Ursprungsemotion,
sondern den Leerstellen, die es dem Leser erlauben, die Fremderfahrung
der Texte an die eigene Erfahrungsgeschichte anzuschließen."
5 Der implizite Leser ist im literarischen Kommunikationsmodell
nicht - wie der Name nahe legt - auf der Seite des Lesers angesiedelt,
sondern auf der des Textes, und er ist dadurch definiert, dass er
die Lesetätigkeiten vollzieht, die der Text ausdrücklich
fordert.
6 Bachmair macht daraus später die "individuelle
Bedeutungskonstitution" (1996, S. 13 ff. und 96 ff.).
7 Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation
der Literaturwissenschaft. In: Warning, Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik.
Theorie und Praxis. München 1975, S. 126-162.
8 Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Warning,
Rainer (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München
1975a, S. 228-252.
9 Vgl. Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der
rezeptionsästhetische Ansatz. In: Belting, Hans u.a. (Hrsg.):
Kunstgeschichte. Eine Einführung. Berlin 1986, S. 203-221.
10 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der
Ichfunktion. In: Lacan, Jacques: Das Werk. Schriften 1. Weinheim/Berlin
1991.
11 Sturm, Hertha: Fernsehdiktate: die Veränderung
von Gedanken und Gefühlen. Ergebnisse und Folgerungen für
eine rezipientenorientierte Mediendramaturgie. Gütersloh: Verlag
Bertelsmann-Stiftung 1991.
12 Sturm, Hertha: Medienwirkung und Wahrnehmung, Emotion
und Kognition. In: Issing, L.-J. (Hrsg.): Medienpädagogik im
Informationszeitalter. Weinheim 1987.
DER AUTOR |
Norbert Neuß, Dr. phil., ist Akad.
Rat an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
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