Thomas Gruber
Wie
viel Fantasie braucht die Zukunft?
Fantasie ist die Kraft, aus Vorhandenem
Neues zu schaffen. Eine Fähigkeit, die auch kommende Generationen
dringend benötigen werden. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
muss die Verantwortung für unsere Kinder ernst nehmen und ihre
Fantasie mit Qualität unterstützten.
Fantasie ist die
Vorstellung und das Vorstellungsvermögen, kurz, unsere spezifisch
menschliche Fähigkeit der Einbildungskraft. Auf den ersten
Blick scheint die Fantasie das Gegenteil von Realität zu sein.
Einer blühenden Fantasietätigkeit stehen wir nicht immer
positiv gegenüber und vermuten hinter ihr in erster Linie einen
Fluchtort, der dazu dient, sich vor der Realität und ihren
Anforderungen zu drücken. Dieser Perspektive folgend, wäre
das, was die Zukunft braucht, eigentlich weniger Fantasie und mehr
Realitätssinn. Platon (427 - 347 v. Chr.) hätte uns da
vermutlich sofort zugestimmt! Er misstraute der Fantasie und dem
Bild grundlegend. Erkenntnis war für ihn ausschließlich
durch begriffliches Denken möglich, während Fantasie,
Bilder und Mythen in erster Linie Trugbilder und Verführung
sind. Schon sein Schüler Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) hat
demgegenüber ein deutlich gelasseneres Verhältnis zu den
"inneren Bildern" und sah in ihnen vor allem ein ordnendes Element.
Jede Zeit hatte ihre ganz eigene Beziehung zur Fantasie: Leonardo
da Vinci betonte die visionären Kräfte der Fantasie, Kant
ihre aufklärende Rolle in der Auseinandersetzung von Welt und
Ich. In der Romantik wird die Fantasie gar zum schöpferischen
Prinzip des gesamten Universums. Für Adorno und Bloch sind
Fantasien der Ort, um zukunftsweisende Utopien zu entwerfen (vgl.
Ränsch-Trill 1996).
Heute – am Anfang des 21. Jahrhunderts –
wissen wir von der Kraft und der Bedeutung der Fantasie. Sie ermöglicht
es, aus Vorhandenem Neues zu schaffen. Sie ist nicht der Gegensatz
von Realität, sondern ergänzt sie. Nur mit der Imagination
können wir uns Zukünftiges denken und gedanklich gestalten.
Insofern braucht die Zukunft schon konstitutiv die Fantasie.
Wenn wir schon von Zukunft sprechen, dann
sollten wir nicht nur uns selber in den Mittelpunkt stellen, sondern
auch die, die diese Zukunft gestalten werden. Es ist unmodern geworden,
über "Kinder als unsere Zukunft" zu sprechen. Moderner ist
es, Kinder als unser "Hier und Jetzt" zu sehen. Das ist sicherlich
ein ganz wichtiger Gedanke, denn Kinder sind unsere Gegenwart. Dies
enthebt uns aber nicht von der Verantwortung, auch an ihre Zukunft
zu denken. Wir müssen Kinder im "Hier und Jetzt" fördern,
um ihnen die Gestaltung der Zukunft zu erleichtern. Und wenn Fantasie
Erkenntnisgewinn bedeutet, wenn sie die Kraft ist, mit der Tradiertes
an die neuen Anforderungen angepasst wird, um Neues zu bilden, dann
sollten wir uns um die Fantasie der Kinder bemühen.
Es steht außer Frage, dass Imagination
für Kinder eine besondere Bedeutung hat. Kinder wachsen erst
in diese Welt hinein, müssen sich mit dem bereits Vorhandenen
auseinander setzen und ihren Weg finden. In Fantasiespielen und
Fantasiegeschichten entwickeln sie ein Verständnis für
sich und die Welt. Sie entwerfen Wünsche und eine mögliche
Zukunft und sie verarbeiten Erfahrungen ihres Alltags (vgl. z.B.
Piaget 1980). Eben dieser Alltag von Kindern ist heute ausgesprochen
kompliziert geworden. Entwicklungen, die mit Schlagworten wie Individualisierung
und Fragmentierung beschrieben werden, machen auch vor der Kindheit
nicht Halt. Die Familienformen haben sich vervielfältigt, der
Rückgang von Kinderzahlen lässt Geschwister seltener werden,
und je weniger Kinder wir haben, desto mehr fokussiert sich unsere
Hoffnung auf die einzelnen. Wir versuchen, sie möglichst früh
möglichst gezielt zu fördern. Wir gewähren ihnen
Wünsche und Freiheiten, die wir selber auch gerne gehabt hätten.
Entsprechend steht den Kindern heute eine Vielfalt von Angeboten
zur Verfügung. Im Angebotsmarkt stehen verschiedenste Initiativen,
Konsumgüter und Institutionen. Nicht zuletzt die kommerziellen
Anbieter des Medienmarkts haben Kinder als eine interessante Zielgruppe
schon lange entdeckt, schließlich sind sie doch – wie James
McNeal dies so plakativ zusammenfasst – ein "Dreifachmarkt": ein
Gegenwartsmarkt, ein Zukunftsmarkt und ein Multiplikatorenmarkt
(McNeal 1987, S. 5 f.).
Was aber bedeutet dies für die Kinder?
Vergleicht man ihre Situation mit der anderer Generationen, zeigen
sich vor allem viele Möglichkeiten und Chancen: Kinder haben
Freiheiten, werden früh gefördert und in ihrer Individualität
unterstützt. Die vielen Angebote bedeuten für die Kinder
jedoch auch einen enormen Druck und die Freiheiten werden zum Entscheidungsstress.
Ein dicht gedrängter Terminkalender der nachmittäglichen
Veranstaltungen ist schon bei Grundschulkindern nicht selten. Hinzu
kommt der hohe Konsumdruck, der nicht zuletzt auch durch die privatrechtlichen
Fernsehsender geschürt wird. Immer neuen Trends müssen
Kinder nacheifern, wenn sie nicht unter Gleichaltrigen außen
vor stehen wollen. Insofern stellt unsere Gesellschaft ausgesprochen
hohe Anforderungen an Kinder. Nicht zu vergessen, was es für
diejenigen Kinder bedeutet, deren Eltern über weniger zeitliche
oder finanzielle Ressourcen verfügen oder weniger Engagement
in die gezielte Förderung ihrer Nachkommen stecken können.
Hier – aber nicht nur hier – sind die Kinder oftmals auf sich gestellt,
sozialisieren sich selber – und das nicht zuletzt mit Medien.
Insofern müssen wir uns sehr dringlich
fragen, was unsere Aufgabe als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt
hierbei sein kann. Es muss unser Ziel sein, dazu beizutragen, Kinder
fit zu machen im "Hier und Jetzt" und mit Perspektive auf ihre Zukunft.
Wie diese Zukunft allerdings aussieht, können wir derzeit nur
erahnen. Wir wissen, dass auf die Generation der heutigen Grundschulkinder
fundamentale Problemlagen zukommen werden. Probleme, die wir zwar
andenken, aber für die wir bisher noch keine dauerhaften Lösungen
gefunden haben. Globalisierung, Energieverknappung und Umweltzerstörung
sind hier nur einige Stichworte. Die rasante Entwicklung der technischen
Möglichkeiten lässt erahnen, dass sich neue Chancen und
Möglichkeiten, aber auch neue Grenzen und Probleme eröffnen
werden. Was wir jetzt bereits wahrnehmen, ist die starke Präsenz
von Medien im Alltag von Kindern, die in den nächsten Jahren
sicherlich nicht abnehmen wird. Wir wollen die Kinder für eine
Zukunft fit machen, von der wir höchstens eine vage Ahnung
haben. Was wir ihnen vermitteln können, ist also vor allem
die Fähigkeit und Kompetenzen, mit den auf sie zukommenden
Anforderungen umzugehen. Und dies wird vor allem heißen: aus
Vorhandenem Neues zu schaffen – ein Grundprinzip der Fantasie.
Die Beziehung von Massenmedien zu Fantasien
erscheint dabei zunächst eher problematisch. Die Überforderung
durch Gewaltdarstellungen und eine reizintensive Aufmachung der
Sendungen verschärft den Druck auf die Kinder und wird vermutlich
genauso Teil der Fantasie wie Werbung und Konsumwünsche. Spontan
scheinen Medien – und insbesondere das Fernsehen – für die
Fantasien der Kinder kaum Positives zu bieten. Genauso spontan sind
wir uns dann wiederum sicher, dass Märchen und gut erzählte
Geschichten Kindern gerade auch für die Fantasie nützen.
"Kinder brauchen Märchen", wie Bruno Bettelheim formulierte
und später auf ein "Kinder brauchen Fernsehen" ausbaute, wenn
Fernsehen denn etwas Ähnliches für die Fantasie bietet,
wie es biblische Geschichten, Mythen und Volksmärchen tun (Bettelheim
1988). Es ist also nicht zwangsweise eine Frage des Mediums, sondern
es ist eine Frage der Qualität.
Es ist unser gesellschaftlicher Auftrag,
Kinder zu fördern, nicht weil sie eine marktrelevante Zielgruppe
und zahlungskräftige Kundschaft sind, sondern weil wir für
sie eine Verantwortung tragen, die wir sehr ernst nehmen sollten
– eine Aufgabe, für deren Erfüllung wir auch in Zukunft
Engagement und viel Fantasie brauchen werden.
LITERATUR |
Ränsch-Trill, Babara: Phantasie. Welterkenntnis
und Welterschaffung – Zur philosophischen Theorie der Einbildungskraft.
Bonn: Bouvier 1996, 384 S.
McNeal, James U.: Children as Consumers. Insights and Implications.
Lexington, D.C.: Heath and Company 1987.
Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes. Frankfurt: Ullstein 1980.
Bettelheim, Bruno: Brauchen Kinder Fernsehen? TelevIZIon, 1/1988/1
S. 4-7.
DER AUTOR |
Thomas Gruber, Dr. rer.pol., ist
Intendant des Bayerischen Rundfunks, München.
INFORMATIONEN |
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für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
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