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Publikationen  TELEVIZION   Ausgabe 15/2002/1


Maya Götz / Dafna Lemish / Amy Aidman / Hyesung Moon

Kinderfantasien und Fernsehen im mehrnationalem Vergleich

Ergebnisse einer Studie in Israel, Südkorea, Deutschland und den USA

Über verschiedene Kulturen hinweg scheint es bei Kindern ganz ähnliche Fantasiewelten und Wunschträume zu geben. Fernsehen spielt in vielen Fantasien eine wichtige Rolle, wobei nur bestimmte, für Kinder attraktive Teile herausgebrochen werden. Sie dienen zur Symbolisierung von Erfahrung, dem Selbstbild und ermöglichen Kommunikation.

Kinder nutzen Medien, allen vorweg das Fernsehen (Livingstone et. al. 2001). Die Bedeutung beschränkt sich dabei nicht auf die Rezeptionssituation, sondern Fernsehspuren finden sich in verschiedensten Interaktionen. Alltagsbeobachtungen, wie beim 4-jährigen Xaver, der mit Tinky-Winky telefoniert, oder bei zwei 8-jährigen Mädchen, die durch den Hort schleichen als König der Löwen – die stärksten Frauen der Welt –, sind keine Ausnahmeerscheinung. Wie in anderen Artikeln dieser Ausgabe nachzulesen, können gerade auch Fernsehfiguren wie Ernie zu imaginären Freunden der Kinder werden (Taylor, Rogge in diesem Heft). Hierbei handelt es sich nicht etwa um eine einfache "Wirkung" des Fernsehens. Es sind Zeichen für die von Kindern mit dem Material des Fernsehens hergestellte Bedeutung – ein Zusammenhang, der am Einzelfall mittlerweile vielfach gezeigt wurde (vgl. z.B. Bachmair 2001). Das Verhältnis von Fantasie und Medien empirisch breiter angelegt zu untersuchen, ist jedoch ausgesprochen schwierig. Schon Fantasien allein sind etwas sehr Intimes, nicht immer bewusst und oftmals gar nicht mit Worten zu beschreiben – insbesondere für Kinder. Soll dann auch noch die Bedeutung der Medien untersucht werden, eignen sich viele der sonst üblichen Vorgehensweisen nicht mehr. Experimentelle Studien, in denen Kinder eine abgebrochene Geschichte weitererzählt müssen (Greenfield 1981, 1986, Ruco 1984, Greenfield 1986) oder die Beobachtung des Fantasiespiels nach der Rezeption von bestimmten Sendungen (Valkenburg et al. 1994, 2000) sind ein Weg. In der mehrnationalen IZI-Studie "Kinderfantasien – Kinderfernsehen" gingen wir einen anderen. Wir boten Kindern in vier Ländern Freiräume zum Imaginieren an und ließen uns von ihnen erklären, was sie fantasiert hatten. Erst im Nachhinein suchten wir nach den Medienspuren.

Methode

Unser Fokus in dem großen Thema Kinderfantasien richtet sich auf die "großen Tagträume", als eine Umschreibung für etwas, was die Kinder sich schon öfters vorgestellt haben, meist am Tag, vielleicht auch manchmal in der Nacht. In einer mit Musik und vorgelesenem Text begleiteten Fantasiereise – in allen Ländern die gleiche – imaginierten sich die Kinder in ihren "großen Tagtraum". Anschließend malten sie ihn, schrieben einige Sätze dazu und erklärten in Einzelinterviews ihre Fantasie und ob es Zusammenhänge zu Medien gibt. Hinzu kommen Daten und Hintergrundinformationen (Fragebogen mit offenen Fragen), die uns die Eltern und die ErzieherInnen zum Kind, seinen Lebensumständen, Lieblingsmedien usw. gaben. Um erste Ansätze zu finden, inwieweit Fantasien kulturabhängig sind, wurde die Studie in den USA, Israel, Südkorea und Deutschland durchgeführt.

Die Altersgruppe, auf die sich die Untersuchung fokussiert, sind die 8- bis 9-Jährigen (oder die gerade 10 Gewordenen). Es ist eine Altersgruppe, die noch deutlich zur Kindheit zählt, in der die kognitiven Voraussetzungen für die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion gegeben sind, die ihre Fantasien gut artikulieren und zumindest einige Sätze selbstständig schreiben kann.

Die Erhebung wurde im Frühjahr bzw. Sommer 2001 durchgeführt, berücksichtigte Mädchen und Jungen und – wenn möglich – typische Vielfältigkeiten des jeweiligen Landes. In Deutschland fand die Erhebung im städtischen und vorstädtischen Bereich im Norden (Osnabrück), Süden (München) und Osten (Dresden) statt. In Südkorea wurden Untersuchungen in Seoul und auf dem Land durchgeführt und in den USA in einem kleinstädtischen Umfeld. Besonders interessant ist die Erhebungsgruppe aus Israel, in die neben jüdischen Kindern (unterschiedlich intensiv religiöser Elternhäuser) auch arabische Kinder einbezogen wurden (s. Tab 1). Es sind, wie häufig bei qualitativen Studien, kleine Stichproben, die keine allgemeingültige quantitative Beschreibung von Verhältnissen zulassen. Ziel ist es vielmehr, tiefer gehende Zusammenhänge aufzudecken und in einem ersten, mehrnationalen Vergleich qualitative Tendenzen herauszuarbeiten.

Tabelle 1: Stichprobe

Israel 53 Kinder / 25 Jungen und 28 Mädchen
35 jüdisch-weltlich,
6 jüdisch-religiös,
3 muslimisch-arabisch,
9 christlich-arabisch
USA 37 Kinder / 15 Jungen und 22 Mädchen,
bildungsorientierte Mittelschicht
Südkorea 47 Kinder / 22 Jungen und 25 Mädchen,
Deutschland 60 Kinder/ 37 Mädchen und 23 Jungen,
u.a. Kinder aus ethnischen Minderheiten
Gesamt 197 Kinder/ 112 Mädchen und 85 Jungen

Die Auswertung des qualitativen Projekts stellte die Äußerungen des Kindes in den Mittelpunkt. Die Informationen von ErzieherInnen und Eltern wurden eher als Hintergrundinformationen genutzt, in denen Erwachsene ihre Perspektive über das Kind darstellten (und damit auch sich selbst). Schwerpunkt lag auf dem Bild der Fantasie und der im Interview erklärten Geschichte.1 Zunächst wurde so jeder Einzelfall deskriptiv rekonstruiert. Orientierung bot hierbei vor allem die "Grounded Theory" (u.a. Glaser 1992). Methodisch-praktisches Vorgehen bei den typisierenden Verfahren war das agglomerative Verfahren, d.h. anhand der einzelnen Fälle wurden nach Ähnlichkeiten und Unterschieden Gruppen "geclustert", aus denen sich die typischen Varianten herausbildeten (vgl. Kluge 2001, S. 257 ff.). Vergleichsdimensionen dieser Clusterung waren:

  • Die Welt, die die Kinder sich fantasieren
  • Das Kind in der Welt (Handlungswunsch)
  • Biografische und lebensweltliche Spuren in der Fantasie
  • Medienspuren in der Fantasie identifizieren


Als wir uns im Oktober 2001 gegenseitig unsere fast 200 Bilder und Geschichten vorstellten, fielen uns sofort einige Unterschiede auf, vor allem in der Art der Darstellung, der Maltechnik usw. Inhaltlich fanden wir aber auch erstaunliche Ähnlichkeiten, die wir so nicht erwartet hatten. Es lassen sich aber auch kulturelle Besonderheiten identifizieren.

Die Welt der Fantasie

Die Kinder malten und erzählten von fremden Ländern, Städten und wunderschöner Natur. Welten, in denen sie sich wohl fühlten und das sein konnten, was sie wollten. Die Studie zeigt eine überraschend hohe Übereinstimmung in den "großen Tagträumen" der Kinder. Obwohl die 197 Kinder in verschiedenen Teilen der Erde wohnen – mit sehr unterschiedlichen Traditionen und Medienangeboten –, lassen sich konnotativ aus dem Datenmaterial neun typische Varianten gruppieren:

  • Die Welt der Harmonie mit Natur, Menschen und Tieren
  • Die Welt des Konflikts und der Bedrohung
  • Die Welt des Übernatürlichen
  • Die Welt der Technologie
  • Die Welt des Reisens
  • Die Welt des fernen Landes
  • Die Welt des sinnlichen Genusses
  • Die Welt des Amüsements
  • Die Welt des eigenen Königreichs


Es scheint über Kulturen hinweg typische Muster "großer Tagträume" zu geben. Für vier dieser Welten exemplarische Beispiele:


Die Welt der Harmonie mit der Natur und Tieren

Viele Kinder fantasierten eine Welt, in der völlige Harmonie mit der Natur und Tieren herrschte. Es gibt dort Ruhe und Frieden, die Natur ist schön und üppig, und alles, was man tun muss, ist zu genießen und ein harmonischer Teil davon zu sein.

Dana, ein 9-jähriges Mädchen aus Israel (Fall 11) stellt sich ihr eigenes Paradies vor. Es ist ein Zustand des Friedens mit der Natur, den sie in einen biblischen Kontext – den Garten Eden – bringt:

"In meiner erfundenen Welt war ich im Himmel. Im Himmel waren jede Menge verschiedener Blumen, Bäume, Vögel, gute Luft, alle möglichen Sachen und eine lächelnde Sonne. Auf dem Baum da ist ein Babyvogel und ein Apfel. Es ist wie der Garten von Adam und Eva mit einem Baum der Erkenntnis. Wenn wir den Apfel essen, wird uns nichts passieren, denn wir sind ein bisschen schlauer als Adam und Eva. Das Meer ist sehr tief und darin sind Delfine, Fische, Haie und alle möglichen Tiere, und auch ein Pokémon, das Togepi heißt. Auch meine Freunde, Eltern, alle aus der Großfamilie und mein Onkel und Cousinen sind da. Die Jungen aus meiner Klasse und diejenigen, die ich nicht kenne, sind nicht hier. Es gibt keine Regale, keine Läden und andere Menschen, nur Zelte gibt es. Man kann dort Tee trinken, denn es wachsen dort Kräuter und Salate. Es gibt keine Schule, weil die ganze Zeit Ferien sind. Man kann spielen, spazieren gehen, auf den Schaukeln schaukeln, man kann sehen, wie die Sonne scheint und man kann den Winter sehen, wenn die Blätter runterfallen. Man kann Blumen blühen und die Bäume wachsen sehen. Ich bin zu den Bäumen gegangen und an ihnen hochgeklettert. Ich habe Tiere großgezogen und ich pflanze Blumen, damit ich das Paradies noch ein bisschen verbessere."

In ihrer Fantasie geht es Dana um die Harmonie mit Natur und Tieren, das Zusammenleben mit der Familie und Freunden in freier Natur. Das Meer ist voller realer und erfundener Meerestiere, sogar ein Pokémon findet seinen Weg ins Paradies. Man kann dort spielen, spazieren gehen und auf Schaukeln schwingen. Man kann die Blumen in Blüte sehen und die Bäume beim Wachsen beobachten. Verpflichtungen, wie z.B. den Schulbesuch, gibt es in dieser Welt nicht, es sind immer Ferien. Dafür hat Dana eine andere Aufgabe: Sie sorgt für Tiere und Blumen und trägt so ihren Teil zum Paradies bei (s. Abb. 1)

Abbildung 1: Dana im Paradies

Die Welt des Konflikts

Andererseits erzählen Kinder von Fantasiewelten voller Konflikte und Kampf. Hier gibt es Digimon- oder Dragon Ball-Kämpfe, Königreiche sind zu beschützen oder Dinosaurier zu beobachten, die einander fressen. Es sind vor allem Jungen, die sich dieser Gruppe zuordnen lassen. Sie nutzen ihre Zauberkräfte und besonderen Fähigkeiten, um sich selbst und die zu retten, die ihnen etwas bedeuten. Sie besiegen die Feinde, stehen in besonderen Positionen und sorgen für Ordnung in ihren fantasierten Welten.

Der 8-jährige Yun’sang (Fall 6, Südkorea) begibt sich in seiner Fantasie "Unter dem Meer" auf den Meeresgrund, um einen Kampf mit einem Leoparden zu beobachten, der alle anderen Meerestiere bedroht. Yun’sang steht auf der Seite der guten Meerestiere. Er ist die Hauptfigur in seiner Fantasie, auch wenn er nicht auf der Zeichnung zu sehen ist (s. Abb. 2).

"Hier ist alles friedlich, bis der Leopard aufkreuzt. Der Wal macht ein Geräusch, das der Leopard nicht versteht, und schon sind alle Fische gewarnt. Dann beginne ich zu kämpfen. Hier in der Unterseewelt sind auch unsichtbare Tiere, wie z.B. auch Löwen und fliegende Pferde, die auch für uns kämpfen. Und auf der Wasseroberfläche segeln Schiffe mit roten Flaggen. Die zehn Fischer pro Schiff wollten eigentlich die Fische fangen und sie essen, aber wegen dem Kampf sind sie weit weggefahren. Jetzt können sie wieder zurück und fangen vielleicht den Leoparden und vielleicht auch noch ein paar Fische – aber der Leopard stirbt am Ende auf jeden Fall."

Abbildung 2: Yun’sang: Kampf unter dem Meer
Die Welt der sinnlichen Erfahrung

In ihren Fantasien betonten Kinder auch die vielen "guten Dinge" des Lebens, mit jeder Menge von Wundern, die die Sinne erfreuen. Wunderschöne Regenbogen entfalten sich über den Kindern. Vögel singen und lassen Kinder wieder fröhlich werden, wenn sie mal traurig sind, und weiche Blumenbeete laden dazu ein, es sich auf ihnen bequem zu machen. Vor allem aber gibt es viele Süßigkeiten zum Essen: Plantagen mit Schokoladenbäumen und Bäumen, an denen Zuckerstangen hängen, Wände, die aus Butterscotch oder Straßen und Häuser, die aus Lebkuchen gemacht sind. Katrin (Fall 07, Deutschland) ist ein 8-jähriges Mädchen. Ihre Fantasie beschreibt haargenau das Land, in dem ständig Süßigkeiten gegessen werden können und wo man nicht einmal dick davon wird (s. Abb. 3):

"Im Lebkuchenland ist alles aus Lebkuchen: die Häuser, das Schloss und auch die Menschen. Aus einer Wolke regnet es Bonbons und alles, was man sich an Süßigkeiten so vorstellen kann. Da muss man sich das nur wünschen und dann regnet es da raus. Die Sonne füllt sie dann wieder auf, so dass es immer genug gibt. Im Lebkuchenland kann man auch an allem knabbern, nicht an den Menschen, aber an den Häusern. Dann haben die Löcher, die man gleich wieder füllen muss. Dann tut man da Lebkuchen rein und verklebt es mit Zuckerguss. Das macht Spaß, denn dann kann man die Hände so ablecken. So werden auch die Straßen im Lebkuchenland gebaut. Man legt einfach Lebkuchen hin und dann regnet es Zuckerguss und schon ist die Straße fertig. In meinem Lebkuchenland gibt es immer Süßes, und man wird nie dick, denn als Süßigkeit kann man ja nicht dick werden."

Abbildung 3: Katrins Lebkuchenland und die Serie Bumpety Boo

Die Welt von Spaß, Spannung und Entertainment

Es gab Welten, die jede Menge Spaß und Spannung ermöglichten, die aber ohne Konflikt oder Bedrohung auskommen – Fantasien, in denen die Kinder auf riesigen Vögeln fliegen, aufregende Zeiten in Freizeit-Parks erleben oder die Auswahl des Films im städtischen Kino bestimmen. Ein Beispiel hierfür ist Ben (Fall 01, USA – s. Abb.43):

"Mein Lieblingsplatz ist ein erfundener Vergnügungspark – ein richtig großer. Es gibt dort einen Bonbon-Baum, ein Clubhaus und einen Tier-Vergnügungspark. Da kann man ganz viele Dinge tun, zum Beispiel vom Baumhaus aus schaukeln, auf einem Trampolin landen und dann in den Pool springen. Ich laufe gerade über eine Hindernisbahn – schwinge mich von einem Seil auf ein Trampolin und lande im Pool. Einige meiner Freunde sind mit mir auf dem Baumhaus und einer ist im Candy-Cane-Baum. Die Leute können in den Tierverwandler gehen, und wenn sie in Tiere verwandelt wurden, können sie den Tier-Vergnügungspark besuchen. Dort sind schon jede Menge Tiere und sie können verschiedenste Karusselle fahren. Dieser Vergnügungspark ist in meinem Garten und er ist unsichtbar. Nur Kinder, die meine Freunde sind, können ihn sehen. Andere werden einfach hindurchgehen. Der Tier-Vergnügungspark ist fliegend."

Abbildung 4: Bild von Ben

Das Kind in der Welt und seine typischen Handlungswünsche

In ihren Fantasiewelten handeln die Kinder. Zunächst natürlich dadurch, dass sie die Fantasie imaginieren, malen und erzählen. In ihren Welten denken sie sich aber auch in bestimmte Handlungspositionen, die sie sich wünschen – es sind ihre "Handlungswünsche". Meist zeigen sich in den Einzelfallrekonstruktionen zwei, manchmal drei Handlungswünsche, zumeist steht jedoch einer eindeutig im Vordergrund. Zu Gruppen zusammengefasst ergaben sich sechs typische Handlungswünsche:2

Harmonie erleben: Bei einer Reihe von Mädchen und einigen Jungen ist das Erleben von Harmonie das zentrale Moment ihrer Fantasie. Sie imaginieren sich in eine heile Welt mit Ruhe, ohne Stress oder ständige Auseinandersetzungen. Alles Böse, Bedrohliche wird aus dieser Welt ausgesperrt. Das eigene Erleben steht im Mittelpunkt, die Mitwelt bietet die Bedingungen an. Die Kinder gestalten ihre Welt auch durchaus mit, vor allem aber erleben und genießen sie sie. Es ist das zahlenmäßig stärkste Cluster, bei dem der Wunsch nach diesem fast paradiesischen Zustand im Vordergrund steht.

Spannung erleben: Für eine Gruppe, in der sich sehr viele Jungen finden lassen, steht das Erleben von Spannung im Vordergrund. Hier geht es darum, Abenteuer zu bestehen, Kämpfe zu bestreiten oder etwas Aufregendes zu entdecken. Häufig steht die Abwehr von Bedrohung im Vordergrund, die durch eine Form der Verwandlung oder Ergänzung (z.B. durch einen mächtigen Freund) erfolgsgekrönt ist. Es ist eine lustvolle Erfahrung, die genossen wird.

Sich besondern: Ein weiterer typischer Handlungswunsch ist es, sich als besonders zu erfahren bzw. von anderen als besonders anerkannt zu werden. Dieses Erleben bzw. die Anerkennung kann mit Bewunderung in Verbindung stehen, mit dem Gefühl, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich anderen gegenüber als überlegen zu zeigen. Es kann aber auch nur das Erlebnis sein, sich in der eigenen Besonderheit zu inszenieren, ohne dass dies von anderen bestätigt werden muss.

Mit anderen verbunden sein / sich in der Verbundenheit erleben: Eine weitere Gruppe typischer Wünsche ist die Verbundenheit mit anderen (Menschen oder Tieren), das "In-Beziehung-Sein". Die Kinder berichten von Gemeinschaft und Freundschaft. Sie fantasieren sich als Teil einer Gruppe oder Freundschaft, die sie partnerschaftlich gestalten. Dieser Handlungswunsch lässt sich sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen finden.

Beschützen und beschützt werden: In einer Reihe von Fantasien geht es um das Thema des Beschützens bzw. Beschützt-Werdens. Die Aktiv- bzw. Passiv-Form ist hierbei fast immer wechselnd auszumachen bzw. es laufen relativ offensichtlich identifikatorische Prozesse ab. Insofern sind beides Ausprägungen einer Kategorie typischer Handlungswünsche.

Eigenständig und unabhängig handeln: In einer Reihe von Fantasien steht das unabhängige Handeln explizit im Mittelpunkt. Die Kinder wollen organisieren, inszenieren und etwas in ihrer Umwelt bewirken. Sie wollen Verantwortung übernehmen, eigenständig ihren Weg suchen und ihre Umwelt gestalten. Sie imaginieren sich hierfür eine Mitwelt, in der sie in Ruhe gelassen werden und selbstverständlich bestimmten können.

Lebensweltliche und biografische Bezüge in der Fantasiewelt

In den Fantasiewelten der Kinder und in ihren Handlungswünschen spiegeln sich ihre Erfahrungen wider, und in einer Reihe von Fantasien werden Bezüge zur eigenen, realen Lebenswelt der Kinder deutlich. Beispielsweise imaginieren sich einige Kinder ihre realen Freunde mit in die Fantasiewelt. Eltern hingegen kommen nur in sehr wenigen Fällen vor. In der Fantasie der Kinder spielen zum Teil real existierende Haustiere eine bedeutsame Rolle oder auch Orte, welche die Kinder schon einmal besucht haben. Diese konkreten lebensweltlichen Bezüge sind nicht nur Verweise der Kinder auf real existierende Momente aus ihrem Leben, sie können auch zum Ausgangspunkt der Tagträume werden. So nehmen einige Kinder eine Geschichte oder Erzählung auf, die ihnen jemand erzählt hat, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt.

You’jong (Fall 24, Südkorea) träumt von der Begegnung mit Jesus, von dem ihre Eltern ihr schon seit langem erzählt haben. Tessina (Fall 03, Deutschland) erfindet ein Paradies für Tiere, das sie "Seeschellen" nennt, denn ihre Mutter hat von den Seychellen berichtet, und Maroum (Fall 10, Israel) fantasiert die Schweiz, von der sein Vater so viel Gutes erzählt hat.

In einigen Fantasien spiegelt sich auch ein besonderes identitätsbildendes Interesse wider, was auch sonst für den Alltag prägend ist. So fantasieren die Kinder von Pferden, Fussballspielen oder der Schifffahrt, also von etwas, was sie im Alltag auch ganz besonders begeistert. In einigen Fantasien geht es um den Ausbau von positiven Erfahrungen. Kinder knüpfen an schöne Erfahrungen an – wie einen Urlaub mit der Familie oder den Besuch in einem Freizeitpark. Es sind jedoch nicht nur positive Erfahrungen, die sich in den Fantasien widerspiegeln, auch negative werden aufgenommen, aber in der Fantasiewelt korrigiert.

So war Annelie (Fall 36, Deutschland) mit ihren Eltern im Urlaub, durfte aber nicht alleine schwimmen gehen. In ihrer Fantasie kann sie es. Prägnant ist auch die Fantasie von Noa (Fall 14, Israel), die von dem Zusammensein mit ihrer verstorbenen Mutter träumt. In ihrem Traumland gibt es außer Wolken nichts, nur sie und ihre Mutter.

Reale Erfahrungen gehen in die Fantasien und Tagträume der Kinder ein, sind einzelne Elemente oder Ausgangspunkt des Tagtraumes. Werden sie nach ihrem "großen Tagtraum" gefragt, also nach positiven Traumwelten, wenden die Kinder diese lebensweltlichen Erfahrungen – unabhängig, ob sie ihnen direkt widerfahren sind oder von einem signifikanten Anderen erzählt wurden – für sich und ihre Handlungswünsche immer ins Gute.

Was Kinder sich aus den Medien mitnehmen: Medienspuren in den Fantasien

Ein zentrales Thema der Studie war die Analyse von Medienspuren, die in der Traumwelt der Kinder gefunden wurden. Wir wollten wissen, wie Kinder in ihren imaginierten Welten "inhaltliches Rohmaterial" nutzen, das aus ihren medienbezogenen Erfahrungen stammt. Theoretisch ließe sich zwar sagen, dass alles in den Traumwelten der Kinder irgendwie mit Medien zusammenhängt. Wir setzten in unserer Analyse jedoch den Fokus auf die Spuren in der Traumwelt der Kinder, bei denen eine direkte Verbindungen zu den Medien deutlich wird. Diese Spuren können entweder explizit sein, d.h. das Kind gibt im Interview ein bestimmtes Medium als Quelle an (z.B. den Namen eines Buches oder einer Fernsehsendung), manchmal sind die Medienspuren aber auch implizit zu rekonstruieren, d.h. in der Fantasie besteht offensichtlich eine Verbindung zu einem vom Kind gerne genutzten Medium, auch wenn dieser Bezug nicht explizit vom Kind hergestellt wird.

Die Beziehung zwischen Traumwelten und Medien zeigt sich in verschiedenen Ausmaßen. Sie reicht von Traumwelten, die völlig einer Medienerfahrung zu entspringen scheinen, bis zu denen, die keinerlei direkte Medienspuren zeigen. In ca. zwei Dritteln der Fälle zeigten sich explizite oder deutliche implizite Medienspuren. Das Fernsehen ist dabei in allen vier Ländern das Leitmedium, aber auch andere Medien wie Computerspiele oder Bücher können Ansatzpunkt und Teil der Traumwelt werden. Visuelle Medien, d.h. Fernsehen, Videokassetten und Filme, spielen jedoch die bedeutendste Rolle in den Geschichten der Kinder – Fernsehen allen voran. Dies ist aus der aktuellen Forschung bereits bekannt: Fernsehen ist im Leben europäischer Kinder das Leitmedium, unabhängig von der Infiltration der neuen Kommunikationstechniken (vgl. hierzu auch Livingstone et al. 2001). In Korea spielt für Jungen das Computerspiel allerdings eine auffällig bedeutsame Rolle.

Oftmals ist die Medienspur nur sehr schwer auf ein Medium zu begrenzen, denn Kinder gehen interessensgeleitet vor und "grasen" verschiedenste Medien nach einem Thema ab (z.B. Dinosaurier, Pferde). Zum Teil nehmen sie sich aber auch ganze Medienarrangements wie Pokémon, wobei nicht mehr klar ersichtlich ist, ob Sammelkarten, die Serie oder der Kinofilm das Herkunftsmedium der Medienspur sind. Aus den rekonstruierten Medienspuren lassen sich drei typische Varianten herausarbeiten: Settings, Figuren und Erzählungen.

Setting

Kinder nehmen sich aus dem Medium einen Ort, ein Umfeld oder einen Kontext. Das kann von der Übernahme des gesamten Settings bis zur Ergänzung der eigenen Welt durch ein einzelnes Objekt oder kleines Element gehen. So spielen einige Traumwelten komplett in einem durch Medien vermittelten Setting:


Abbildung 5: Udi im Harry Potter-Land

Abbildung 6: Jack wird Millionär

Die Geschichte von Udi (Fall 01, Israel) spielt im Land des Harry Potter, basierend auf der Bücherreihe (s. Abb. 5).

Jack (Fall 25, USA) wählte das Setting einer populären Quizshow für seine Traumwelt: Wer wird Millionär? – (s. Abb. 6). Und Gui’hyong (Fall 04, Südkorea) entwickelte seine Geschichte im Jurassic Park.

Weniger offensichtlich ist es beispielsweise bei der 8-jährigen Katrin (Fall 07, Deutschland). Ihre Fantasie "Das Lebkuchenland" (s.o.) hat nach ihren eigenen Aussagen ihre Wurzeln in einer 14 Tage vor dem Interview gesehenen Folge der Saban-Zeichentrickserie Bumpety Boo (Super RTL). Katrin nimmt das Setting einer bestimmten Sequenz: Der Held Ken und sein sprechendes Auto haben in einer Quizshow ein Schlaraffenland gewonnen und essen sich durch das Schloss. Für Katrin sind jedoch weder die Rahmengeschichte (Quizshow, der Kampf zwischen Gut und Böse) noch die männlichen Helden für ihre Fantasie relevant. Sie nimmt nur das Schlaraffenland (s. Abb. 3). In einigen Fällen ist die Spur zu dem Medium noch weniger auf den ersten Blick zu sehen. Hier integrieren die Kinder nur ein ausgewähltes Objekt in ihre Fantasie:

Gyu’sang (Fall 34, Südkorea) nahm ein Auto aus einem Computerspiel mit in seine Traumwelt, in der es ansonsten um elektronische Häuser und Zauberpulver geht. Narmeen (ein arabisch-israelisches Mädchen; Fall 49, Israel) fügt ihrer Zeichnung von einem Basketball-Spiel mit ihren Freundinnen eine Bank hinzu. Auf ihr können sie sitzen und sich ausruhen, wie es die Mädchen in ihrer arabischen Lieblingszeichentrickserie tun, meinte sie.

Figuren

Eine weitere typische Variante der Medienspuren in den Traumwelten der Kinder, sind die Figuren. Auch hier kann es von der kompletten Adaption der Persönlichkeit von Figuren bis hin zu speziellen Fähigkeiten, Aussehen, Namen oder Kostümen gehen. Manchmal ist die Beziehung und Ähnlichkeit zu den Original-Figuren sehr offensichtlich. In anderen Fällen ist die Figur im Bild gar nicht zu sehen und wird erst durch die nachträgliche Erzählung der Hintergrundgeschichte deutlich.

Der südkoreanische Junge Yon’uh (Fall 20) fantasiert, wie zwei Figuren um ihn kämpfen. Beide sind aus einer Internet-Flash-Animation übernommen: Mashimaro und Zolaman. Das amerikanische Mädchen Audrey (Fall 28) zeichnet Pikachu, eine zentrale Pokémon-Figur in ihrem Bild (s. Abb. 7).

Das israelische Mädchen Tali (Fall 06) erträumt sich, auf der Bühne neben ihrer Lieblingssängerin zu singen.

Der deutsche Junge Robby (Fall 43) stellt sich vor, dass der Drache des Films Dragon Heart sein Freund ist. Jeden Abend vor dem Einschlafen erzählt er ihm von den Vorkommnissen des Tages (s.Abb. 8).


Abbildung 7: Yon’uh mit Mashimaro und Zolaman

Abbildung 8: Robby und sein Drache aus Dragon Heart

Es muss dabei nicht nur die ganze Medienfigur, es können auch nur kleine Momente sein, die Kinder sich in ihrer Fantasie wie ein Kostüm überziehen. Tanja (Fall 53, Deutschland) malt sich in dem prächtigen Prinzessinnenkleid aus dem Film Sissi, um ihre eigene Besonderheit und eine romantische Atmosphäre zu schaffen. Andere Elemente des Films, wie etwa den Kaiser oder Sissis Schicksal, nimmt sie nicht. Diese sind für das, was sie empfinden, imaginieren und ausdrücken möchte, nicht wichtig. Ein besonders prägnantes Beispiel, wie Kinder sich aus Medien etwas ausleihen, um es für sich und ihre Themen zu nutzen, ist Omer (Fall 02, Israel - s. Abb. 9):

Abbildung 9: Omer und seine Superhelden-Kräfte

"In meiner Fantasie ist die Welt ausschließlich meine, und ich bin der Herrscher. Und ich trage diesen ganz besonderen Anzug. Der rote Flugumhang ist wie der von Superman. Das Grüne da sind meine Hände, mit denen ich auf alles klettern kann, so wie Spiderman, und das Blaue sind Feuerlaserstrahlwaffen. Das Rote ist ein Gürtel mit Pokémons. Das Lilane sind meine Flugschuhe, und die Hörner habe ich von Batmans Maske. Ich bin der große Meister, und ich habe auch ein Schwert wie in Star Wars. Um mich herum ist mein Zimmer. Es ist sehr, sehr groß und hat viele Figuren, die überlebensgroß sind. Es gibt einen Teppich und ein Bett und viele Dinge, um zu trainieren, wie z.B. Wände, um daran hochzuklettern. Dort sind auch Gewichte zum Muskeltraining, wie es bei den olympischen Spielen gemacht wird. Es gibt auch Pokémon-Figuren, z.B. einen riesigen Pikachu. In dieser Welt gibt’s gute Menschen und böse Menschen und auch eine Schule in einer Burg, wie die Hogwarts Schule in Harry Potter. Ich habe dort bereits erfolgreich abgeschlossen. Und es gibt dort tropische Pflanzen wie in einem Dschungel, aber auch Haustiere, so wie einen Hund. In der Mitte meiner Welt ist eine geheimnisvolle Insel wie bei Jules Verne, mit vielen Walen wie in Moby Dick. Wenn ich schlafe, träume ich von den Superkräften der Fernsehhelden, aber ich hab’ auch ein bisschen was aus meiner eigenen Vorstellung dazu getan."

Omer nimmt sich die Fähigkeiten und Stärken von verschiedensten Medienfiguren. Mit diesen Kräften gestärkt ist er gegen etwaige Angriffe und Bedrohungen gefeit, ist mächtig und nahezu unbesiegbar.

Erzählungen

In einigen Fantasien adaptieren Kinder eine bestimmte Erzählstruktur des Medienkontextes und nutzen sie in ihrer Traumwelt als eine Art "Rückgrat", auf dem ihre eigene Geschichte aufbaut.

Ruben (Fall 40, Deutschland) erfährt sich auf einer Reise mit einem Raumschiff im Weltraum und folgt damit der Geschichte des Films Armageddon. Martin (Fall 22, USA) erlebt noch einmal einen Teil der Geschichte von Peter Pan im Film Hook. Jun’sik (Fall 29, Südkorea) folgt den Abenteuern der Geschichte und des Computerspiels Königreich des Windes.

Kinder nehmen das mit in ihre Fantasie, was für sie interessant und attraktiv ist. Bei Jun’sik sind es besonders die Ritterkämpfe und das Lebenskonzept von Energie, die wie Blätter von den Bäumen fällt, bis man für eine bestimmte Zeit tot ist. Für Martins Tagtraum (Fall 22, USA), ist vor allem das Basketballspiel interessant, eine an sich eher kleine Szene in dem Film Hook, in dem der nun erwachsene Peter Pan gegen die verlorenen Jungs antreten muss, um sich zu beweisen.

Es sind aber nicht nur fiktionale Texte, die in die Fantasien der Kinder eingehen, auch Sachinformationen aus Dokumentations- oder Wissenssendungen können zum Sprungbrett für ganze Traumwelten werden.

Dam’dok (Fall 40, Südkorea) weiß aus naturwissenschaftlichen Programmen, wie die Erde vom All aus zu sehen ist. Mit Bruder und Vater schwebt er mit großen Luftballons ins All, um dies einmal selber nachzuvollziehen. Kevin (Fall 27, USA) hat ein Buch über Neil Armstrong gelesen und fantasiert sich als Teil der Mannschaft. Gemeinsam entdecken sie neue Welten und besetzen sie für die USA. Tessina (Fall 03, Deutschland) entwickelt ihre Geschichte um eine Information über bedrohte Tiere, die sie in einer Fernsehdokumentation gesehen hat. Aus der Dokumentation weiß sie, dass es einen Platz für bedrohte Tiere geben muss, also erfindet sie einen.

Ästhetik

Eine Dimension, die sich durch die drei Kategorien der Medienspuren zieht, ist die ästhetische Komponente. Zum einen nutzen Kinder Symbole aus den Medien, um auf bestimmte Sendungen, Bücher oder Computerspiele zu verweisen. Hier stehen Symbole aus den Medien für Medien. Die Kinder nehmen aber auch spezielle Darstellungstechniken auf, um zum Beispiel Bewegung zu symbolisieren (mehrfach Zeichnungen, Bewegungslinien wie im Comic), Geräusche (strahlenförmige Symbolisierung, Musiknoten), Licht (Strahlen) – oder sie nutzen Sprechblasen zur Darstellung von Kommunikation. Zum Teil nehmen sie aber auch die mediale Symbolisierung ganzer Konzepte, z.B. die Symbolisierung des Weltfriedens durch das UNICEF-Symbol, das Katja (Fall 29, Deutschland) nutzt, um dann ihre Fantasie von einem friedlichen Miteinander zu entfalten. Nicht zuletzt die Art, Geschichten aufzubauen und anderen zu erzählen, wird durch Medien mitbestimmt sein, ohne dass dies im Detail immer nachzuweisen ist.

Medien zur Symbolisierung von Erfahrung, Perspektiven und zur Herstellung von Kommunikation

Kinder beziehen eine Vielzahl von Medientexten auf verschiedenste Weise in ihre Fantasien mit ein. Dabei sind die Kinder die aktiv Sinngebenden, indem sie Teile ihrer Alltagswelt, zu der eben auch Medien gehören, in ihre Fantasie integrieren. Kinder nutzen Medien, um sinnliche Erfahrung zu repräsentieren oder Selbstwahrnehmung zu symbolisieren. Sie nehmen Medieninhalte, um ihren eigenen Erfahrungen einen Sinn zu geben und drücken ihre eigenen Gefühle mit ihnen aus.

Mit dem Material der Medien werden eigene Narrationen erfunden, in denen Erfahrungen gewertet, symbolisiert und (Zukunfts-)Perspektiven entworfen werden. Hierfür nehmen Kinder die Mediengeschichten als Ausgangspunkt für eigene Geschichten, die ihnen angenehm sind, die sie ernst nehmen und in denen sich ihre Erfahrungen widerspiegeln. In den Fantasiegeschichten mit dem Medienmaterial repräsentieren sie ihre Wahrnehmung der Dinge und erzählen sie aus einer für sie subjektiv sinnhaften Richtung neu. Hierbei können sie relativ dicht an den Mediengeschichten bleiben oder auch nur Bruchstücke nehmen. Es ist aber immer ihre eigene Geschichte, die sie (u.a.) mit dem Material der Massenmedien erzählen.

Welche Medienelemente in die Fantasien der Kinder eingehen, ist nicht in erster Linie eine Frage des Genres, der Machart oder ob es Fiktion oder Non-Fiktion ist. Das Entscheidende ist, dass die Themen der Kinder getroffen werden. Es muss Material sein, mit dem Kinder ihre Erfahrungen symbolisieren, mit dem sie eigene Geschichten erfinden und mit dem sie sich mitteilen können. Das Entscheidende ist dabei nicht etwa das Spektakuläre oder Actionhaltige. Es müssen pointierte Typisierungen sein, Verdichtungen von Erfahrungen. Sie dürfen im Detail umschreibend, aber nicht definierend sein (vgl. auch Neuß in diesem Heft). Grenzen treten da auf, wo Vordefiniertes der eigenen Selbsteinschätzung oder den Werten der Kinder entgegenläuft.

Als Beispiel dafür, wie ein Mädchen Medienelemente für sich nutzt, ein Ausschnitt aus der Rekonstruktion des Falls Patricia (9 Jahre, 59 Deutschland). Sie hat seit Monaten einen "großen Tagtraum", den sie vorzugsweise in der Schule oder bei den Hausaufgaben weiterspinnt. Sie nennt ihn "Schlaraffenland" (s. Abb. 10.

"Ich träume vom Schlaraffenland. Das ist ganz toll, weil es da so schöne Betten zum Schlafen gibt und ich schlaf’ doch so gerne. Und außerdem gib es da viele Obstbäume, wo immer Obst dran ist. Und in diesem Schlaraffenland, da sind alle Pokémon-Figuren. Und da gibt’s auch Menschen, aber nur die, die an die Pokémons glauben oder die sie halt mögen. Andere kommen da nicht rein. Grad sind meine vier Lieblingspokémons da. Der Relaxo, der schläft genauso gern wie ich. Smetbo, der würd’ ich gern sein, weil er so schön fliegen kann. Giflor, eine Blume, und ich mag’ doch Blumen gerne, und Mew, mein Lieblingspokémon, der total süß ausschaut und die halbe Erde explodieren lassen könnte, wenn er wütend ist, aber das ist noch nicht vorgekommen. Ach ja, und Pokémon Tokepi gibt’s auch noch, aber ich spiel’, dass es ein Mondmännchen ist. Es ist zum Mond gebracht worden und jetzt fliegt es immer zwischen Mond und Schlaraffenland hin und her. Auf dem Mond leben noch seine Eltern und es geht auf eine besondere Schule, da gibt’s Mondsachkunde. Das hätt’ ich auch gerne. Dann müsste ich auch nicht immer in den langweiligen Stunden von meinem Schlaraffenland träumen."

Abbildung 10: Patricias Schlaraffenland und seine Medienspuren

Die Medienspuren verweisen explizit auf Pokémon und auf Patricias Lieblingsbuch: Der 35. Mai von Erich Kästner. In letzterem kommen die beiden Helden (Konrad und sein Onkel Ringelhuth) auf ihrer sonderbaren Reise in die Südsee durch ein Schlaraffenland, in dem Faulheit zum Lebensstil erhoben ist. Patricias Fantasie heißt wie dieses Land. Es gibt dort dieselben bequemen Betten, in die sie allerdings das Pokémon Relaxo hineinlegt, das genauso gern schläft wie sie. Schlafen und im Bett "rumgammeln" ist eine von Patricia bevorzugte Tätigkeit, die ansonsten für eine 9-Jährige allerdings wenig gutgeheißen wird. In ihrer Fantasie findet sie einen Weg, diese Vorliebe positiv zu bewerten.

Die Teilgeschichte mit dem Tokepi, das zwischen den Welten hin- und herreist, wird aus Patricias Biografie heraus in ihrer Sinnhaftigkeit gut nachvollziehbar. Patricias Vater ist Berufssoldat und die Familie musste alle zwei Jahre umziehen. Ein Dreivierteljahr vor der Erhebung zog die Familie von Kalifornien nach München, was dem Mädchen insbesondere schulisch sehr schwer fiel. Ähnlich wie Tokepi wurde auch Patricia jeweils in neue Welten gebracht. Mit dieser Geschichte (die im Original noch um einiges komplexer ist) "arbeitet" sie ihre Erfahrungen in ihrer Fantasie auf und findet einen Weg, sie ins Aktive zu wenden. Sie hat für sich sogar eine Begründung für ihr Schulversagen und ihr geringes Interesse an den Lerninhalten: Eigentlich müsste sie, die wie Tokepi zwischen zwei Welten lebt, auf eine spezielle Schule gehen und andere Dinge lernen.

Individuell bedeutsam ist für Patricia aber auch die Figur Mew, ihr absolutes Lieblingspokémon. Mew sieht, so Patricia, zwar nett aus, könnte aber die halbe Welt explodieren lassen. Mew ist für Patricia ein Orientierungspunkt im Verhalten gegenüber den Intrigen der Klassenkameradinnen, denen sie derzeit ausgesetzt ist. Sie wehrt sich nicht, sondern wird "ganz still". Auch die negativen Rückmeldungen von der bayerischen Lehrerin "steckt sie einfach weg" (beides Aussagen der Mutter), ohne sich zu rechtfertigen oder etwas zu verändern. Dieses Verhalten ist ganz ähnlich dem von Mew in dem Kinofilm, der Patricia sehr fasziniert hat. Mew wird angegriffen, doch die Psychoblitze verletzen ihn nicht. Er könnte zurückfeuern (was er im Film auch irgendwann tut), weiß aber um seine Überlegenheit und Kraft. Insofern ist Mew für Patricia auch ein inneres Bild voller Stärke, mit dem sie sich in schwierigen Zeiten an ihrer Überzeugung festhält: Ich bin mächtiger, als ich eigentlich scheine!3

Genderspuren in den Fantasien

Über alle vier Länder hinweg bestehen geschlechterspezifische Tendenzen, die meist schon auf den ersten Blick deutlich werden. Die Fantasien der Mädchen sind tendenziell eher harmoniebetonter und füllen oftmals das ganze Bild mit einer Landschaft aus. Medienspuren sind weit weniger zu erkennen. Bei den Jungen strotzen die Bilder oftmals von eindeutigen Hinweisen zu aktuellen Medienarrangements, und in vielen Bildern ist eine Auseinandersetzung zu sehen. Mädchen- und Jungenwelten scheinen völlig voneinander getrennt. Mädchen malen – mit ganz wenigen Ausnahmen – keine Männerfiguren und Jungen keine weiblichen Figuren. Entsprechend geschlechterspezifischer Sozialisation betonen Mädchen die Harmonie und Beziehungsorientierung, sind verantwortlich und managen ihre auf Dauerhaftigkeit angelegte Welt. Die Fantasien der meisten Jungen hingegen sind eher episodenhaft und aktionsbetont. Sie suchen und genießen die Auseinandersetzung, wehren Bedrohung ab und kämpfen für eine gute Sache. Harmonie scheinen sie geradezu zu vermeiden. Was auf den ersten Blick wie zwei völlig verschiedene Welten erscheint, hat in der detaillierteren Analyse denn aber doch ganz ähnliche Momente. Bei beiden gibt es Bedrohung. Bei den Jungen ist die Auseinandersetzung oder das bedrohliche Monster jedoch meist direkt im Bild zu sehen. Bei den Mädchen ist dies auf den ersten Blick nicht der Fall. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Bedrohung in der Fantasie gäbe. So erzählt Isabel (Fall 52, Deutschland), es gäbe böse Menschen und Verbrecher, die aber von Spionen an der Grenze abgewehrt werden. Tessina (Fall 03, Deutschland) hat eine klare Regelung zum Schutz ihrer von Menschen bedrohten Tiere eingeführt: Am Tag dürfen Menschen auf ihre Insel kommen, die Nacht gehört aber allein den Tieren.

Während Jungen oftmals die Bedrohung direkt im Bild bekämpfen, organisieren Mädchen diese gewissermaßen weg. Damit finden sie einen Weg, der durch ihre geschlechterspezifische Erziehung mitgetragen wird. Sie "performen gender", indem sie sich in ihrer Peer-Group und nicht zuletzt uns als ForscherInnen einen angemessenen "mädchenhaften" bzw. "jungenhaften" Weg finden.

Medienspuren finden sich bei Jungen und Mädchen, bei Jungen jedoch häufiger und deutlicher. Insbesondere Medienfiguren finden sich oft in den Jungenfantasien, während sie bei Mädchen selten sind. Vor dem Hintergrund geschlechterspezifischer Medienanalysen ist dies leicht nachzuvollziehen, sind die meisten Helden des Kinderprogramms doch "selbstverständlich" männlich (vgl. Götz 1999). Entsprechend sind Mädchen gezwungen, das Medienmaterial deutlich mehr zu interpretieren. Wenn, nehmen sie potenziell androgyne Wesen wie Pokémon-Figuren (die meisten sind grammatikalisch Neutrum) oder CatDog (halb Katze, halb Hund). Eine andere Strategie ist es, die männlichen Helden einfach auszulassen und nur das Medien-Setting zu nehmen. Zum Teil erfinden sie weibliche Fantasiefiguren dazu, die zwar nicht im Medium waren, aber gut in diese Szenerie gepasst hätten. Insgesamt ist die Zahl der Fantasien ohne deutliche Medienspuren bei den Mädchen doppelt so hoch. Fernsehen und Computerspiele bieten für die Fantasien der Mädchen, in denen sie sich als stark, machtvoll und handlungsmächtig denken können, zu wenig an. In den Fantasien der Jungen finden sich Spuren vor allem von actionhaltigen Filmen und Computerspielen, Informationssendungen oder mythischen Geschichten, in denen Männer die Helden sind. Die deutlichen Medienspuren in den Fantasien der Jungen zeugen von ihrer Suche nach Männlichkeitsbildern, die sie vor allem in den Medien zu finden meinen. Was hier als Mannsein angeboten wird, ist jedoch oftmals ausgesprochen konservativ und trägt viel zu wenig zu einer ausbalancierten Identitätsfindung bei (Winter/Neubauer 2001).

Kulturelle Spuren in den Fantasien

Neben den über die vier Länder hinweg bestehenden Ähnlichkeiten zeigten sich aber auch Besonderheiten. So wie Medienspuren in den Fantasien auszumachen sind, so lassen sich kulturelle Spuren rekonstruieren bzw. die Fantasien vor dem Hintergrund des Wissens um kulturelle Besonderheiten deuten.

Israel

Bei der Konzeption der israelischen Erhebung sollte der vielfältigen Bevölkerung der israelischen Gesellschaft Rechnung getragen werden – mit spezieller Berücksichtigung des jüdisch-arabischen Konflikts. Daher interviewten wir 53 Kinder – ein Fünftel davon waren arabische Israelis, sowohl muslimischer als auch christlicher Herkunft. Wir wollten mehr über die Fantasien von Kindern erfahren, die in einer von Grund auf geteilten Gesellschaft aufwachsen. In ihrer Alltagswelt erfahren sie lang anhaltende, gewalttätige Auseinandersetzungen mit wachsendem Hass und Aggression, die mit dem weit verbreiteten Gefühl der Verzweifelung und dem Verlust von Hoffnung einhergehen. Entsprechend erwarteten wir in den Traumwelten der Kinder Hinweise auf ihre Einstellung gegenüber dieser Situation und die Besorgnis darüber. Die Analyse der israelischen Ergebnisse bestätigte dies in einigen Momenten, in anderen brachte sie aber auch einige Überraschungen. Entgegen unseren Erwartungen fanden wir nur wenige Hinweise auf die politische Situation.4

Sowohl in den Geschichten der arabischen Kinder als auch denen der jüdischen Kinder wünschten sich diese nicht explizit Welten, in denen es keine Terroristenangriffe gibt, keine Selbstmordattentäter, keine Besetzung und keinen Rassismus. Nur ein Junge wünschte sich explizit eine Welt ohne Terroranschläge. Parallel dazu erhielten wir auch keine Geschichten, in denen Kinder sich als militärische Helden imaginierten, die Feinde bekämpften oder ihr eigenes Volk verteidigten. Wir fanden keinerlei jüdische, arabische oder allgemein nationalistische Symbole in den Fantasien. Es gab keine nationalen Flaggen oder religiöse Symbole und nahezu keine Erwähnung des Kollektivs – weder in religiösem noch in nationalistischem Zusammenhang. Der einzige Hinweis darauf, dass sich die Kinder der Situation bewusst sind und sich darum sorgen, kam indirekt. Sowohl einige jüdische als auch arabische Kinder sagten, dass sie keine Fernsehnachrichten mehr anschauen, da hier so schreckliche Inhalt zu sehen seien. Zum Teil verdrängen die Kinder die gesamte Situation vermutlich und schaffen in ihren Fantasien eher eine Art Gegenwelt.

Wie schon erwartet, fanden wir in der Studie einige Unterschiede zwischen arabischen und jüdischen Kindern. Durch die geringe Anzahl der Beispiele sollten sie aber eher als Ideen und Tendenzen gesehen werden. In den Traumwelten jüdischer Kinder zeigten sich mehr Spuren einer individuellen Orientierung: "für mich selbst sein," "ganz alleine sein," "unabhängig sein," "nur Dinge tun, die ich will," "keine Eltern haben, die mir sagen, was ich tun soll," "niemand ist da, der von mir Disziplin verlangt." Die arabischen Kinder hingegen schienen mehr am Kollektiv orientiert zu sein: Sie waren in ihren Traumwelten eher mit anderen Menschen zusammen, hauptsächlich mit ihrer Großfamilie oder Freunden. Bei aller gebotenen Vorsicht ließe sich dies auch durch den Unterschied in den kulturell-gesellschaftlichen Orientierungspunkten erklären. Bei den jüdischen Kindern sind die Bezugspunkte eine westlich orientierte, modernisierte Gesellschaft, die mehr auf Individualität abzielt, während arabische Kinder eher in traditionellen Strukturen aufwachsen, in denen die Großfamilie im Mittelpunkt steht und die Verantwortung gegenüber dem Kollektiv hervorgehoben wird. Ein anderer interessanter, wenn auch schmerzlicher Unterschied war die Tatsache, dass in den Fantasien arabischer Kinder der Staat Israel, dem sie ja formell als Staatsbürger angehören, nicht vorkommt. Hingegen treten ihr eigenes Dorf oder ihre eigene Stadt sehr wohl mit hohem identifikatorischen Potenzial auf. Dies legt die Vermutung nahe, dass sie den Staat Israel nicht als etwas imaginieren, mit dem sie sich identifizieren können.

USA

Der US-amerikanische Teil der Studie wurde in Urbana, Illinois durchgeführt. Das ist eine mittelgroße Universitätsstadt im Mittleren Westen mit mittelständisch geprägter Bevölkerung. Geografisch gesehen ist die Landschaft dort sehr eben. Es gibt keine größeren Gewässer in der Nähe. Fantasien über Strand und Wasser waren sehr häufig, ebenso über Berge. Typische Wunschländer sind also oftmals durch das geprägt, was Urbana nicht zu bieten hat – der Name, der in diesem Kontext häufiger fiel, war Kalifornien.

Weiter war auffällig, dass in den US-amerikanischen Fantasien im Verhältnis häufiger Kinofilme eine wichtige Rolle spielten. So erwähnten vier Kinder beispielsweise den Film Shrek, der während des Erhebungszeitraums gerade neu in den Kinos angelaufen war. In den USA dienen Filme als ein Brennpunkt von Aufmerksamkeit für die Medienbedürfnisse von Kindern. Marketing-Kampagnen zielen darauf ab, bei Erscheinen eines neuen Films Spannung zu erzeugen – mit Produkteinbindungen und Promotions, die z.B. durch Fast-Food-Ketten und andere kinderfreundliche Geschäfte getragen werden, indem speziellen Kindermenüs Plastikfiguren der Filmfiguren beiliegen. Das ist im Rahmen der "McDonaldization" (Ritzer 1993) in vielen Ländern so, in den USA ist die Verbreitung von Fast-Food-Ketten jedoch um einiges höher und durch die häufige Nutzung von Familien im Alltag von Kindern bedeutsamer. Über Fernsehwerbung werden die Kinder dazu angehalten, diese Spielsachen zu sammeln. Auf diese Weise sind die Figuren bereits vor dem Filmstart allgegenwärtiger Bestandteil der Kinderkultur. Direkt auf den Kinostart folgt routinemäßig die Herausgabe als Video. Rund um dieses Ereignis wird wieder eine neue Werbekampagne angesetzt. Sobald die Kinder das Video des Films erstanden haben, werden sie es wahrscheinlich wiederholt ansehen. Die Werbung rund um Filme und die darauf folgende Verfügbarkeit sowie das wiederholte Ansehen der Filme mag die überaus bedeutende Rolle von Filmen in den Fantasien der amerikanischen Kinder erklären.

Ein weiterer auffälliger Punkt ist die Betonung der persönlichen Stärke in den Fantasien. Dies ist sicherlich in allen Ländern nachzuweisen, in den amerikanischen Bildern ist es aber deutlicher und durchgängig. Die Vereinigten Staaten sind eine Gesellschaft, die denjenigen großen Wert beimisst, die aufgrund ihres persönlichen Einsatzes erfolgreich sind – und das scheint in einigen Kinderfantasien durch. Amerikanische Kinder haben in ihren Fantasien Wirksamkeit. Sie bringen sich selbst in Situationen, in denen sie in der Welt agieren können, anstatt auf die Welt zu reagieren. Sie sind stark, sie haben alles unter Kontrolle und geben Befehle. Dies entspricht den kulturellen Normen und gesellschaftlichen Werten: "Die meisten westlichen Industriegesellschaften tendieren dazu, aufgrund zahlreicher historischer und kultureller Hintergründe, individualistische Ziele über kollektive zu stellen. Entsprechend werden Spuren der Unabhängigkeit und selbstbewusstes Vorgehen an Individuen allgemein geschätzt und direkt von den Eltern dieser Gesellschaften unterstützt." (De Loache und Gottlieb, 2000, S.13) Unabhängigkeit und Selbstvertrauen werden unterstützt, nicht Verbundenheit mit anderen oder Selbstverleugnung. Es ist nicht nur in Ordnung, unterschiedlich zu sein (innerhalb bestimmter Parameter), es ist gut, sich von der Menge abzuheben. Diese Werte scheinen durch in den Fantasien der amerikanischen Kinder, in denen die Individualität der Kinder und ihre Kompetenz hervorgehoben und gefeiert werden.

Südkorea

Bei den koreanischen Bildern fällt zunächst ihre besondere Gestaltung auf. Viele Bilder sind mit Hintergrundfarbe gemalt, nutzen intensive, strahlende Farben. Dies hat sicher auch etwas mit den zur Verfügung stehenden Malwerkzeugen zu tun. Es ist aber auch tiefer kulturell verwurzelt. Zum einen müssen koreanische Kinder – wie asiatische Kinder allgemein aufgrund der Schriftzeichen – früh in gezielten und exakten Mal- und Zeichentechniken geschult werden. Der Hintergrund ist aber noch tiefer in den traditionellen Wurzeln zu suchen, die im heutigen Korea nach wie vor lebendig sind und Identitätsbildung und Alltagskultur prägen.

Gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. drang der Konfuzianismus in Korea ein und wurde dort weltanschaulich führend. Die philosophische Lehre hat auf das Leben, Denken und Handeln der Bevölkerung Koreas einen tiefgreifenden Einfluss genommen und war Staatsdoktrin im Königreich bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis heute noch haben die Strukturen der koreanischen Familien und Alltagssitten sowie Bildungs- und Erziehungswesen in Südkorea ihre Grundlagen in den Normen und Werten der konfuzianischen Ethik und in ihrer vom Konfuzianismus geprägten Kultur.

Die wichtigste konfuzianische Grundlehre sowie die Prinzipien sind:

  • Anpassung an die Welt
  • Halten von Ordnung und Konventionen
  • Unterordnung der menschlichen Gesellschaft unter die himmlische Ordnung

Die konfuzianischen Prinzipien der Ethik sind:

  • Ungleichheit im Status aller Menschen
  • Erziehbarkeit aller Menschen
  • Notwendigkeit des Verzichts auf individuelle Freiheit zugunsten sozial-emotionaler Sicherheit

Fünf Regeln für das Ordnen der zwischenmenschlichen Beziehungen in Staat und Gesellschaft sind:

  • Loyalität zwischen Untertan und Obrigkeit
  • Ehrfurcht, Achtung, Ergebenheit in der Eltern-Kind-Beziehung
  • Strikte Trennung der Rollen von Mann und Frau
  • Rangunterschiede durch Respekt und Ehrerbietung der Jüngeren vor den Älteren
  • Vertrauen und Wertschätzung unter Freunden

In der koreanischen Gesellschaft genießen akademische Bildung und Elite-Universitäten hohes Ansehen. Die Gelehrten nehmen im Allgemeinen eine gesellschaftlich bevorzugte Stellung ein und bilden den Beamtenstand. Bei der Auswahl der Besten, der Elite, findet heute eine rigorose Leistungsauslese im Bereich der Bildung statt. Entsprechend hoch ist die Bemühung der Eltern, ihren Kindern eine gute und Erfolg versprechende schulische Bildung zukommen zu lassen. Neben dem Schulunterricht ist privater Zusatzunterricht, mit einer entsprechenden finanziellen Bürde für die Eltern, nahezu selbstverständlich. Das seinem Ursprung nach positive konfuzianische Erbe, dass jeder (und jede) bildbar sei und Bildung genießen sollte, führte einseitig interpretiert in der modernen Konkurrenz-Gesellschaft zu einem starken Leistungsdruck für Kinder und Jugendliche. In den Fantasien finden sich davon Spuren, beispielsweise in der expliziten Erwähnung des Leistungsdrucks, dem die Kinder entkommen möchten. So möchte das Mädchen Hyon’ah Kim (Fall 05) in die USA fliegen, weil es glaubt, dass die Kinder in den USA oder in anderen Ländern nicht so viel lernen müssen. Oder der Junge Seyong Chung (Fall 18), ein Musterschüler, möchte in einer Welt leben, in der er ohne den Leistungsdruck der Erwachsenen leben kann. Schule als unangenehmes Moment, das die Kinder betont aus ihrer Traumwelt ausschließen möchten, gibt es in den anderen Ländern auch. In Korea ist es jedoch explizit der Druck (nicht die Schule als Ganzes), welchen die Kinder erwähnen. Während die einen dem Leistungsdruck entfliehen wollen, haben andere ihre Verantwortung für stets gute und saubere Arbeit verinnerlicht. Das Mädchen Young’son (Fall 12) fantasiert selbst in ihrem Traumland eine Uhr, die ihr bestätigt, dass sie die von ihr geforderten Leistungen erbracht hat und sie dafür lobt.

Ein anderes Moment, in dem sich das kulturelle Erbe des Konfuzianismus widerspiegelt, ist das hohe Gruppenbewusstsein. Was nachvollziehbar macht, warum sich koreanische Kinder nur sehr verdeckt in Fantasien als besonders darstellen. Es ist jedoch nicht nur die Konfuzianismus-Tradition, die sich als kulturelle Besonderheit in den Fantasien der Kinder zeigt. Im Vergleich zu den anderen drei Ländern finden sich hier deutlich mehr Medienspuren von Computerspielen. Hintergrund ist das enorme Interesse an Multimedia in Südkorea. Computer und Multi-Media-Ausstattungen sind in allen Klassenzimmern selbstverständlich. In der Erziehung wird das besondere Potenzial von Multimedia betont und Eltern und ErzieherInnen fördern die Computernutzung der Kinder. Inwieweit hier eine Generation von Vielnutzern entsteht, die mit der Faszination Computerspiele nicht immer umgehen kann, wird gesellschaftlich ignoriert. Vor allem für die Jungen scheint hier Reflexionsbedarf.

Deutschland

Auch in der deutschen Erhebungsgruppe gab es Spuren, die sich als besonders bezeichnen lassen. So finden sich zum Beispiel Tiere in allen Ländern in den Fantasien der Kinder, besonders häufig jedoch bei den deutschen Kindern. In über 70% aller Fantasiebilder der deutschen Stichprobe sind Tiere zu sehen und spielen eine bedeutsame Rolle. Sie sind Symbole für eigene Anteile, symbolisieren das Gefühl der eigenen Bedrohtheit, verkörpern den Wunsch nach Verbundenheit – lieb zu haben und liebgehabt zu werden – oder Stärke zu gewinnen.

Für deutsche Kinder entsteht jedoch auch ein besonderer moralischer Konflikt, der sich in den Fantasien widerspiegelt: Sie stehen zwischen Tierliebe und dem Verzehr von Fleisch. In ihrer Fantasiewelt finden sie Wege, wie sie mit diesem Konflikt umgehen können. Sie klären andere Menschen auf oder rechtfertigen, warum sie zwar Fleisch essen, aber Tiere trotzdem mögen und diese geschützt werden sollten. In diesen Kontext passt auch ein Thema, das in verhältnismäßig vielen Fantasiewelten von deutschen Kindern eine Bedeutung hat: der Umweltschutz. Jungen und Mädchen imaginieren, wie sie Räume schaffen, in denen Tiere ungestört leben können. Sie möchten umweltfreundliche Wagen fahren und grenzen sich gegen andere (Fantasie-)Länder ab, die keine umweltfreundliche Industrie haben. Neben Natur- und Umweltsendungen trägt hier vermutlich vor allem der Lehrplan in Grundschulen seine Früchte. Kinder wollen in ihrer Fantasie aktiv die Natur schützen, Müll vermeiden und umweltfreundlich handeln. Dabei sind diese Fantasieelemente deutlich mit Macht- und Kompetenzfantasien verbunden. Diese Verknüpfung ist ausgesprochen erfreulich. Hier durch mehr symbolisches Material eine Unterstützung anzubieten, wäre gesellschaftlich wünschenswert.

Eine weitere Auffälligkeit in der bundesdeutschen Stichprobe findet sich bei den Mädchen, von denen vergleichsweise viele in ihrer Fantasie den Handlungswunsch "eigenständig und selbstbestimmt handeln" in das Zentrum stellen. In den symbolischen Ausdruckformen zeigt sich dabei ein regionaler Unterschied: Mädchen im Norden der Republik nutzen für diesen Handlungswunsch häufig Pferde als symbolisches Material, bayerische Mädchen das Königinnen- bzw. Prinzessinnen-Motiv. Beides ist sicherlich in ihrem regionalen Umfeld mitbegründet – im Norden gibt es schlicht und ergreifend mehr Pferde; in Bayern sind Schlösser und Mythen, zum Beispiel um Sissi, sehr viel präsenter.

Pädagogische Einschätzung

In dieser Studie boten wir Kindern Räume zum Fantasieren an und untersuchten, inwieweit sich in dem Imaginierten Medien- und kulturelle Spuren wiederfinden. Hierbei wird deutlich: Kinder haben (auch heute) eine reiche Fantasiewelt. Sie formulieren sie zum größeren Teil mit erkennbare Medienspuren, zum Teil aber auch ohne sie.

Fernsehen, das auch für die Fantasien von Kindern Leitmedium ist, kann Material für die Fantasie sein, wenn es die Themen, Erfahrungswelt und Aneignungsmuster der Kinder trifft und sie nicht unangemessen überfordert. Dies gilt nicht nur für bestimmte Genres und Formate oder ob das Medium Fiktion oder Non-Fiktion erzählt. Medien liefern aber auch Deutungsmuster, die für die Kinder und ihre Lebenslage nicht immer angemessen und zu ihrem Vorteil sind. So zeigten sich in der Studie Problembereiche bei den Geschlechterrollen oder der Vorstellung von anderen Völkern.

In einem Fall in Dresden fantasierte ein Mädchen, wie es den "Dummen", gemeint sind Afrikaner, Wissen und Ware aus Deutschland mitbringt. Sicherlich werden derartige Vorstellungen vor allem durch das soziale Umfeld geprägt. Die Medienspuren verweisen aber auch auf Tierdokumentationen, in denen eben oft die "unwissenden Afrikaner" Tiere unnötig töten oder ihnen Schaden zufügen. Die "guten und gescheiten" Weißen (hier Deutsche) decken dies auf und bringen den "Afrikanern" bei, wie es richtig geht. Das Mädchen nimmt die Deutungsmuster auf, gibt ihr dies doch Handlungsmöglichkeiten und -spielräume. Sie wird zur deutschen Missionarin. So subjektiv sinnhaft das auch ist, schafft es medienunterstützt Stereotypen und Vorstellungen, die mit einer (national geprägten) Hierarchisierung einhergehen. Medien allgemein, insbesondere aber die für Kinder, müssen hier dringend reflektierter mit ihren Klischees umgehen.

Ein anderer problematischer Aspekt ist, dass Fernsehen in der Fantasie auch Wünsche eröffnet bzw. der Wunscherfüllung einen Namen geben kann. Durch die gerade im privatrechtlichen Fernsehen gegebene enge Verknüpfung von Fernsehen mit dem Werbe- und Lizenzmarkt besteht hier die Gefahr, Kaufwünsche mit Freiräumen zu verwechseln und Kinder eben nur noch als kaufkräftige KundInnen zu sehen.

Nicht zuletzt bleibt zu bedenken, dass Fernsehen an sich eine leicht zugängliche und für einige Kinder dauerhafte Beschäftigung ist. Singer (u.a. 1999) arbeitete aus ihren Forschungen heraus, dass dauerhafter Fernsehkonsum (im Sinne von VielseherInnen) die Fantasieräume auch limitieren und negative Rückmeldungen aus dem konkreten Umfeld die Fantasietätigkeit einschränken können. Bisher nicht thematisiert wurde, dass Fernsehen als Aktivität selber eine intensive Erfahrung ist. Durch die andauernde Rezeption des erlebnisintensiven Mediums können genau die Räume, die für die Entwicklung und Weiterführung der Fantasien notwendig wären, auch verloren gehen. Hier ist Medienkompetenz gefragt, die eben auch heißt, abschalten zu können. Neben medienkompetenten Kindern braucht es aber auch medienkompetente ErzieherInnen und Eltern, und das nicht nur bei der angemessenen Fernsehnutzung. Erwachsene brauchen mehr Kompetenzen für das Verständnis der Fantasieäußerungen von Kindern – werden sie mit oder ohne Medienspuren artikuliert. Im Sinne Singers wäre es zudem für die Kinder sicherlich hilfreich, wenn auch Erwachsene sich Fantasien offen zugestehen.

Fernsehen hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Fantasie. Es kann die Fantasie fördern, wenn Kinder und ihre Eltern medienkompetent mit den Inhalten, der Fernsehdauer und den Gesprächen, die auch Fernsehspuren enthalten, umgehen können – und wenn Produzierende sich ihrer Verantwortung bewusst sind und Kinder nicht ausnutzen, sondern sie in ihrer Vielfältigkeit ernst nehmen und fördern.


ANMERKUNGEN

1Die Auswertung der Kinderzeichnung orientierte sich an dem Vorgehen von Norbert Neuß u.a. 1999. Aus dem Interview wurde, die subjektive Sinnperspektive nachvollziehend, aus den Einzeläußerungen der Kinder eine Geschichte formuliert, die möglichst dicht an den Originalzitaten der Kinder bleibt und das hervorhebt, was ihnen besonders wichtig war.

2Handlungswünsche stehen dem bisher in der deutschsprachigen medienwissenschaftlichen Forschung üblichen Begriff "handlungsleitende Themen" (Bachmair 1982, Charlton/Neumann-Braun 1986, auch Theunert 1996, Neuß 1999 etc.) nahe. Leider fehlt es derzeit jedoch an einer breit angelegten Systematik des Begriffs und der Analyseebenen. Daher entschlossen wir uns für eine kleinere, dicht am empirischen Material bleibende, deskriptive Auswertungsperspektive und Begriffsfindung.

3Wir möchten Ruth Etienne Klemm noch einmal ganz herzlich für die Unterstützung bei der Rekonstruktion dieses Falls danken.

4Die Erhebung fand zu einem Zeitpunkt nur wenige Monate nach dem zweiten Aufstand in den palästinensischen Gebieten statt. Das heißt noch vor der vollen Eskalation der derzeitigen Krise und dennoch in einer weiteren Periode der Angst und Aggression in der Geschichte des Staates Israel.

Die Studie erscheint in deutscher Sprache 2003 im KoPäd Verlag, München.



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DIE AUTORINNEN

Maya Götz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI), München.

Dafna Lemish, Dr. phil. ist Senior Lecturer im Department of Communication an der Tel Aviv University, Israel.

Amy Aidman, Dr. phil., ist Lecturer an der University of Urbana-Champaign, IL, USA.

Hyesung Moon, Dr. phil., lehrt am Department of Education der Yonsei University in Seoul, Südkorea.




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