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Publikationen  TELEVIZION   Ausgabe 13/2000/2

Dr. Maya Götz

Die Bedeutung von Daily Soaps im Alltag von 10- bis 15-Jährigen

Seifenblasen zwischen "leicht verdaulicher Unterhaltung" und "ein Raum für sich"



Die meisten Daily Soaps bieten Heranwachsenden eher klischeehafte Projektionsflächen, in denen sie ihr Lebensgefühl (GZSZ) oder ihre Lebenseinstellung (Marienhof) wiederfinden. Bei Schloss Einstein können Mädchen und Jungen Konkretes für die Bearbeitung ihrer Themen finden.

 

Einleitung

Weltweit sind sie im Programm zu entdecken, Daily Soaps und Telenovelas, die täglich gesendeten Endlos-Serien. Neben den kurzen, offenen Handlungssträngen und typischen Erzählformen wie dem "Cliffhanger", sind es vor allem die Ästhetik, die Art der Kameraeinstellungen und Beleuchtung und die schauspielerische Darstellung, die uns schon auf den ersten Blick erkennen lassen: Das ist eine Soap. Der phänomenale Erfolg des Genres ist nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Die Figuren der Soap sind stereotyp, die produktionsästhetische Qualität liegt weit unter dem sonstigen Niveau und die Dialoge sind flach - vor allem flach gespielt. Inhaltlich geht es scheinbar um Alltagsprobleme junger Menschen, die sich analytisch schnell als überzogene Katastrophen und Schicksalsschläge herausarbeiten lassen, die alles andere als alltäglich sind. Qualität – oder das, was man üblicherweise darunter versteht – kann es also nicht sein, was täglich mehrere Millionen Menschen vor den Bildschirm lockt. Vor allem die 10- bis 15-jährigen Mädchen sind von dem Genre begeistert. Fast gespenstisch muten die Top 50 des letzten Jahres an, in denen sich 46-mal das Format Gute Zeiten, schlechte Zeiten findet (vgl. van Eimeren in diesem Heft).

Warum sind ausgerechnet 10- bis 15-jährige Mädchen derart begeistert von dieser Sendung? Wie integrieren Kinder und Jugendliche die Soaps in ihren Alltag und welche Funktionen kommen dem Genre zu? Welche Unterschiede gibt es in der Rezeption zwischen den Daily Soaps Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL), Marienhof (ARD), Verbotene Liebe (ARD) und Unter Uns (RTL) und wie ist die Rezeption von zwei in der Dramaturgie potenziell ähnlichen Formaten wie Schloss Einstein und Big Brother einzuschätzen?

Hier setzt die Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) "Bedeutung von Daily Soaps für Kinder und Jugendliche" an. Ausgangspunkt ist die Rezeption der vier deutschen Daily Soaps durch Kinder und Jugendliche (6 bis 19 Jahre). Ergänzt wird dies durch einen Vergleich mit der Aneignung zweier Formate, die ästhetische Ähnlichkeiten aufweisen und ebenfalls zum Erhebungszeitraum täglich gesendet wurden: die Kinder-Weekly Schloss Einstein und die Real-Life-Soap Big Brother.

Methode und theoretische Einbettung

Theoretisch eingebettet ist das Projekt in einen lebensweltlich orientierten Ansatz. Medienaneignung wird dabei als ein aktiver und subjektiv-sinnhafter Prozess verstanden, der als Bedeutungskonstitution beschrieben werden kann. Hierbei verbinden sich die individuellen Themen der Menschen, ihr sozialer Kontext und ihre individuelle Biographie mit dem spezifischen Medium in seinen intertextuellen Einbindungen (vgl. Bachmair 1996). Was die Menschen sich aus dem Medienarrangement herausnehmen und wie sie es in ihre Fantasien und Deutungsmuster einbauen, ist im Einzelfall durch die Rekonstruktion der Sinnzusammenhänge möglich. Hierbei wird zunächst den mit der Rezeption verbundenen subjektiv-thematischen, interaktiven und situativen Funktionen nachgegangen. Wie nutzt das Kind oder der/die Jugendliche das Medienarrangement zur Bearbeitung der eigenen Themen? Welche Bedeutung kommt der Rezeptionssituation und der Folgekommunikation zu? Die so herausgearbeiteten individuellen Sinnzusammenhänge werden fallvergleichend unter Einbeziehung u.a. von Medienanalysen reflektierend interpretiert. Die entstehenden Facetten der Medienaneignung zeigen typische Aneignungsmuster und lassen zumindest eine erste Einschätzung der Bedeutung des Genres für Kinder und Jugendliche zu (zur Methode vgl. Götz 1999).

Im Mittelpunkt der Studie steht eine Befragung von 401 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 19 Jahren. In strukturierten Befragungen mit offenen Fragen wurden ihnen Räume geboten, ihre Perspektive, ihre Fantasien und Wünsche sowie die Einbindung der Serie in den Alltag zu artikulieren. Bei 184 der Jüngeren1 (6-13 Jahre) wurde die Befragung in einem ca. 45-minütigen Einzelinterview durchgeführt.2 Die Älteren bekamen die gleichen Fragen (mit leichten sprachlichen Veränderungen) als Fragebogen zugeschickt und füllten diesen selbstständig aus. Die Stichprobe wurde bundesweit erhoben und berücksichtigt unterschiedliche Schularten. Sie ermöglicht in manchen Bereichen eine vorsichtige quantitative Einschätzung, insgesamt ist das Forschungsprojekt jedoch qualitativ orientiert. Die für ein qualitatives Projekt hohe Fallzahl bietet die Möglichkeit von Teilauswertungen z.B. in Bezug auf bestimmte Altersgruppen, geschlechterspezifische Fragestellungen und einzelne Formate (s. Tab. 1).

Tabelle 1: Die Stichprobe

Gesamt-
summe
Geschlecht Alter
Mädchen Jungen 6-9 10-12 13-15 16-19

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

170 153 17 26 50 63 31

Marienhof

97 82 15 3 15 42 37

Unter Uns

11 11 0 0 0 3 8

Verbotene Liebe

30 24 1 3 3 8 18
Summe Daily-Soaps 308 270 38 30 68 116 94

begleitende Fälle

Schloss Einstein

40 30 10 20 19 1 0

Big Brother

53 18 35 13 25 13 2

Summe Erhebung

401 318 83 63 112 130 96

Die Auswertung der Befragung fand auf mehreren Ebenen statt:

  • Der Schwerpunkt lag auf einem fallrekonstruktiven Vorgehen. Zu 200 der 401 Befragungen wurden von PsychologInnen und PädagogInnen qualitative Einzelauswertungen angefertigt, die der individuellen Bedeutung der Soap und ihrer Einbindung in den Alltag nachgehen.3Für die anderen 201 Befragungen wurde eine Kurzauswertung angefertigt.4 Fallkontrastierend wurden anschließend Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Mensch-Medien-Beziehung herausgearbeitet und soweit möglich die subjektiv voreingenommene Sinnperspektive und thematische Funktion rekonstruiert.
  • Antwortvergleichend wurden die situative5 und interaktive6 Funktion sowie die subjektiv entstehenden intertextuellen Muster7 untersucht.
  • Auf der Basis medienanalytischer Untersuchungen zu den Figuren der vier deutschen Daily Soaps8 wurde der individuellen Aneignung der Figuren9 sowie formatvergleichend den jeweils mit der Sendung verbundenen Wünsche und Fantasien10 nachgegangen.
  • Die Auswertung der Befragung fand zudem quantifizierend statt, d.h. die Aussagen wurden so weit wie möglich codiert.11 Die so gewonnenen Aussagen sind nicht repräsentativ und die Reliabilität ist nur bedingt gegeben, da es sich um offene Fragen handelt. Dennoch eröffnet diese Auswertung einen ersten quantitativen Überblick, der m.E. für die weitere qualitative Auswertung hilfreich sein kann.
  • Mit einer gezielten medienpädagogischen Perspektive wurden auffällige Interviews mit Grundschulkindern ausgewertet (vgl. Tilemann).
  • Zur Verortung der Ergebnisse und Erweiterung der Perspektive wurden zudem weitere Teilprojekte durchgeführt. Um auch die Position derjenigen einzuschätzen, die diese Serien nicht regelmäßig sehen, fanden 23 nach Geschlecht getrennte Gruppendiskussionen und 10 Morgenkreisgespräche mit insgesamt 392 Grundschulkindern statt. Da im Gesamtprojekt die Mädchen im Vordergrund stehen, wurden, um sich speziell der Bedeutung von Soaps für Jungen zu nähern, neben der Stichprobe sechs weitere Lebensweltanalysen durchgeführt (vgl. Winter in diesem Heft). Zur Unterstützung der Auswertung wurden zudem Zusammenfassungen aller Handlungsstränge der vier Daily Soaps und von Schloss Einstein angefertigt12 und eine Untersuchung zu den derzeit aktiven Soap-Fan-Clubs erstellt.13

Typische Aneignungsmuster der Soap

In der Auswertung der 308 Befragungen von regelmäßigen Daily Soap-Sehenden zeigte sich vor allem eines: Es gibt nicht die eine Bedeutung von Soaps im Alltag von Kindern und Jugendlichen, denn die Bedeutungszuweisung ist hochgradig individuell. Für Kinder und Jugendliche stehen die spektakulären Handlungsstränge, einzelne Figuren, die "Philosophie" der Soap oder die Stars der Sendung im Vordergrund. Die Mensch-Medien-Beziehungen kann von ausgesprochen empathisch bis distanziert sein. Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen sich dennoch strukturelle Ähnlichkeiten, und aus den Einzelfallauswertungen lassen sich 10 Cluster typischer Medienaneignung herausarbeiten. Hierfür wurden mit der Vergleichsdimension Mensch-Medien-Beziehung Ähnlichkeiten in jeweils im Vordergrund stehenden Aneignungsmustern zu Gruppen (Cluster) zusammengefasst. Bezogen auf die jeweiligen subjektiv-thematischen Funktionen lassen sich diese typischen Aneignungsmuster unter den folgenden Oberbegriffen einordnen: I. Unterhaltung und Information, II. Widerspiegeln der eigenen Vorstellung und III. Fehlendes in der eigenen Lebenswelt medienspezifisch auffüllen bzw. überdecken. Die Grafik 1 gibt einen Überblick, wobei jeder Punkt für eine Einzelfallauswertung steht. Die typischen Aneignungsmuster werden im Folgenden kurz beschrieben, anhand prägnanter Aussagen und eines typischen Falls veranschaulicht sowie medienpädagogische Einschätzungen ausgeführt.

Grafik 1:


I. Die Daily Soap als Unterhaltung, Information und Ratgeber

Die Mensch-Medien-Beziehung muss nicht zwangsläufig durch hohe Involviertheit gekennzeichnet sein. Viele Kinder und Jugendlichen, die regelmäßig Daily Soaps sehen, nutzen dieses Genre als leichte Unterhaltung und zur Information. Oftmals geht dies mit einer hohen Ritualisierung und besonderer Bedeutung der situativen und interaktiven Funktion einher. Die Kinder und Jugendlichen nutzen die Soap häufig subjektiv-thematisch als Unterhaltung, in der sie sich eine interessante Welt ansehen. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie die (individuell interpretierten Inhalte) nicht in ihre Konstruktion von Wirklichkeit einbeziehen oder als Ratgeber nutzen.

"Da gibt es jeden Tag immer wieder was Neues": Ansehen von spektakulären Handlungssträngen, Liebe und Harmonie
Ein medienanalytisch immer wieder hervorgehobenes Kennzeichen der Soap Opera sind ihre spektakulären Handlungsverläufe, von denen in den einzelnen Sendungen mehrere parallel laufen und Ende der Sendung mit einem Cliffhanger abbrechen (z.B. Frey-Vor 1996). Für alle Kinder und Jugendlichen, die sich auf dieses Genre einlassen, sind diese Momente wichtig, aber nur selten der eigentliche Grund, die Serie über viele Jahre jeden Abend anzuschalten. Für die meisten sind sie eher die Basis für ein Interesse an dem Genre und ein leicht zu artikulierendes Argument, um sich und anderen zu erklären, warum man die Soap eigentlich sieht. Es gibt jedoch auch eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, für die in dem Ansehen und Verfolgen der spektakulären Handlungsstränge die Hauptattraktion des Genres liegt.

Erika ist eine 15-jährige Realschülerin und sieht seit 1½ Jahren jeden Abend "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Sie sieht sich aus einem tendenziell erfüllten Alltag mit Pferden heraus am Abend mögliche Problembereiche weiblicher Jugendlicher an, mit denen sie selbst konfrontiert werden könnte. Inhaltlich stellt sie die für sie realistischen Problemlagen vor allem der Figur Rhea Harder in den Vordergrund und genießt die Pferde-Szenen. Erika sieht sich zum Abschluss eines mit Naturerlebnis und sozialer Einbindung verbundenen Tages die Sendung mit Interesse an. Aus einer eher erfüllten Welt heraus nutzt sie das abendliche Ritual, um potenziell auf sie zukommende Ereignisse anzuschauen. Die Soap wird zum Fenster in eine andere Welt.

Diese potenziell eher distanzierte Mensch-Medien-Beziehung zeigt sich in unterschiedlichen Varianten. So steht für einige Kinder und Jugendliche (über alle Altersgruppen mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Verbotene Liebe ) das Ansehen und Nachvollziehen der oftmals komplizierten Liebesbeziehungen im Vordergrund; bei Grundschulkindern zeigt sich Entsprechendes mit Konzentration auf die harmoniebetonten Momente der Serie.

Medienpädagogisch ist diese Aneignungsform im Vergleich eher unproblematisch, eine Bedeutung der allabendlich präsentierten Inhalte für die Konstruktion von Wirklichkeit kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Wenn beispielsweise die 11-jährige Janina beschreibt: "Da sind Leute, die spielen Sachen, die es im normalen Leben auch gibt, z.B. Intrigen, Schwangerschaften, dass einer Seelenspaltung hat mit 2 oder 3 Persönlichkeiten", so greift sie hier vor allem Genrekonventionen auf, vermischt diese aber auch mit ihrem Konzept von Wirklichkeit und dem, was "normal" ist (vgl. Tilemann).

"Man kann sich viel Rat holen": Themen und Probleme werden als Lernprogramm genutzt
Kinder und Jugendliche haben oftmals das Gefühl, die Themen der Soap seien nützlich für sie und bieten ihnen Informationen über Krankheiten, Randgruppenprobleme und soziale Zusammenhänge. Der 13-jährigen Julia beispielsweise gefällt am Marienhof besonders gut, "dass man auch etwas lernt: Ich wusste vor dem Thema mit Hannah zum Beispiel nicht, was HIV-Positiv ist". Neben dieser Sachinformation nutzen einige Kinder und Jugendliche die Soap regelrecht als Ratgeber für schwierige Situationen:

Die 15-jährigen Saskia und Tanja beschreiben, wie sie den "Marienhof" ganz gezielt als Hilfestellung für Problemsituationen nutzen:"Ich überleg manchmal, wie eine Figur jetzt in dem Augenblick handeln würde."(Saskia), "Manche Situationen treten auch bei einem selber im Leben mal auf, dann versucht man es, wie damals im ‚Marienhof‘ zu steuern." (Tanja)

Bei den Mädchen dieser Gruppe (Tendenz ab 10 Jahren) steht das Gefühl, Hilfestellung für konkrete Problemstellungen und Situationen zu erhalten und Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen, im Vordergrund ihrer regelmäßigen Soap-Rezeption. Subjektiv-thematisch kommt der Soap die Aufgabe zu, über Zusammenhänge zu informieren und spezielle Problembereiche verständlich und nachvollziehbar zu machen.

Lisa ist 13 Jahre alt und geht in die 7. Klasse eines Gymnasiums. Sie erklärt "Gute Zeiten, schlechte Zeiten": "Es gibt viele Schauspieler. Jeder hat bestimmte Aufgaben in seiner Rolle. Diese Soap will den Kindern die Realität erklären. Was es alles im Leben gibt und wie man damit klar kommt." Lisa genießt es, dass bei "Gute Zeiten, schlechte Zeiten":"meistens alles real ist.", denn hier "wird das Leben nachgespielt, z.B. manche Leute kriegen Krebs oder Bulimie. Das ist auch gut, weil die meisten haben Vorbilder und mit den Vorbildern wird das alles besser erklärt."

Lisa hat das Gefühl, mit der Soap "die Realität" erklärt zu bekommen, indem Krankheiten wie Krebs oder Bulimie "nachgespielt" werden. Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit entlarvt sie, dass es sich hierbei um ein produziertes Angebot handelt, das für sie quasi einen gezielten Lehrauftrag hat. Sie formuliert sogar eine Rezeptionsannahme, indem sie Lernen in der Soap als durch "Vorbilder" vermittelt beschreibt. Lisa kann also nicht als überwältigtes Opfer beschrieben werden, sondern wendet sich, wie viele Kinder und Jugendliche, gezielt an die Soap, um Informationen zu erhalten und Zusammenhänge erklärt zu bekommen. Scheinbar zeigt ihr Gute Zeiten, schlechte Zeiten auch "was es im Leben so gibt". Die Darstellungen sind jedoch klischeehaft überzogen, Problemlagen werden bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten eher in einer Alltagstheorie als durch intensive Recherche aufgearbeitet und, wenn überhaupt, nur oberflächlich gelöst. Zudem werden in der Daily Soap nur bestimmte Themen und diese dann zyklisch immer wieder mit ähnlichen Personenkonstellationen umgesetzt (vgl. Baranowski). Information wird also nur über bestimmte, spektakuläre Ausschnitte von Welt gegeben und dann in einer spezifischen Stereotypisierung. Die Serienrealität ist überdramatisiert, trifft vielleicht eine "emotionale Realität" der Kinder und Jugendlichen, jedoch nicht deren konkrete Problemlagen. Insofern taugen sie eventuell als Projektionsfläche, konkrete Hilfestellung bieten sie jedoch nicht wirklich.

"Wenn´s vom Drehbuch her Ungereimtheiten gibt, wird herzhaft gelacht."
Distanz als Selbstdarstellung / Distanzierung als Chance

Einige Jugendliche, die regelmäßig die Serie sehen, distanzieren sich betont von der Soap, indem sie die Produktion und schauspielerische Leistung hervorheben und sich deutlich als kritische RezipientInnen positionieren. Wenn Lilly (14 Jahre) über ihre Gute Zeiten, schlechte Zeiten-Rezeption erzählt: "Wenn‘s vom Drehbuch her Ungereimtheiten gibt, wird herzhaft gelacht", nutzt sie einen Distanzierungsmechanismus, indem sie die Soap als etwas sieht, was von Menschen hergestellt wird und das sich beurteilen lässt. Dies eröffnet für diese Jugendlichen die Chance, sich aus einer gewissen Distanz heraus Probleme anzusehen, Zusammenhänge zu verstehen und sich trotz eigener (intellektueller) Einschätzung für das Genre zu begeistern.

Alida ist 14 Jahre, geht in die 8. Klasse eines Gymnasiums und sieht "seit über 5 Jahren" "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Es ist für sie "garantiert leicht verdauliche Unterhaltung". Mit ironischem Unterton beschreibt sie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" als "dilettantisch gemacht, aber gerade deshalb eine ungemein unterhaltende Serie über Teens und Twens, die ein Alltagsleben vorgaukelt, wie es unrealistischer nicht sein könnte. Wie gesagt deshalb unterhaltend, und durch die kalkulierte Mischung verschiedener Charaktere ist für jeden Geschmack auch eine Modenschau enthalten." Inhaltlich passiert "alles, was im wahren Leben nicht passieren würde. Als Basis ‚Alltag‘ einer Gruppe junger Leute mit Herz und Schmerz, gut gewürzt mit Abenteuern (Schatzsuche, Mörderjagd) aller Art. Schnelle Abfolge von Problemen, meist nach Schema F: Woche 1 - Problem wird auffällig, Woche 2 - Situation eskaliert, Woche 3 - Problemlösung, Woche 4 - keiner erinnert sich mehr an die Existenz dieses Problems." Alida präsentiert sich hier mit einer hohen Genrekompetenz und hat Spaß, sich "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" auch mit Distanz anzusehen. Sie hat Freude an der Entlarvung, ohne dabei die Begeisterung zu verlieren.

Genrewissen und Entmystifizierung eröffnen "garantiert leicht verdauliche Unterhaltung" insbesondere über die "trashigen" Momente des Formats. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Inhalte nicht Teil der Konstruktion von Wirklichkeit werden (vgl. Tilemann).

 

II. Widerspiegeln der eigenen Vorstellung

Viele Kinder und Jugendliche haben das Gefühl, sich in Figuren, Stil oder Grundhaltung der Daily Soaps wiederzufinden. Aus einem eher positiveren Alltagserleben heraus wenden sie sich allabendlich an das Genre und fühlen sich von dem Gezeigten bestätigt.

"Sie ist wie ich": Wiederfinden und bestärken durch eine spezielle Figur
Bei einer relativ großen Gruppe von Mädchen und einigen Jungen liegt die wichtigste Bedeutung der Mensch-Medien-Beziehung der Soap in einer Spiegelfunktion. Diese Kinder und Jugendlichen (Schwerpunkt Mädchen 11 bis 16 Jahre) haben das Gefühl, sich in einer spezifischen Figur wiederzufinden und geben Aussagen wie "Sie ist wie ich" (13-jährige Vanessa über Lee vom Marienhof) oder "Sie ist fast genauso wie ich" (Ronja, 15 Jahre, über Marie aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten). Auf der Grundlage einer zumeist positiven Einstellung zum eigenen Sein erkennen sie sich wieder und fühlen sich bestärkt. In ihrer Selbstbeschreibung kennzeichnen sich diese Kinder und Jugendlichen oftmals mit denselben Worten, mit denen sie ihre bewunderte Figur belegen.

Auffällig in diesem Cluster ist das häufige Auftreten der Figur "Marie" aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Sie scheint in der Kombination von (stereotypem) mädchenhaften Schönheitsideal mit selbstbewusstem Auftreten - und der Handlungseinbindung als die kompetente Macherin, der aber auch peinliche Missgeschicke passieren können - für Mädchen eine attraktive Projektionsfläche zu bieten. Die 12-jährige Antonella beschreibt dies mit den Worten: "Marie sieht hübsch aus, ist ein kleines Vorbild, ist witzig und macht viele Patzer". Oftmals ist dieses Sich-Wiederfinden in einer spezifischen Figur mit einem bestimmten Lebensgefühl eng verbunden.

Nelly ist 14 Jahre alt und besucht die 8. Klasse des Gymnasiums einer Stadt. Sie bezeichnet sich selbst als "crazy girl" und liebt es, auf Achse zu sein. Sie hat viel Spaß auf Parties und beim Klamottenkauf, treibt viel Sport, geht tanzen, fährt gern Fahrrad und Inlineskates. Am meisten an "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" begeistert sie die Figur Marie: "Ich finde sie so toll, weil sie immer so cool drauf ist, tolle Klamotten trägt und immer eine ausgeflippte Frisur hat." In sie kann sie sich "am besten hineinversetzen, sie ist auch ein crazy Teenager wie ich." Nelly findet sich mit ihrem Lebensgefühl eines "crazy Teenagers" in "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" wieder. In ihrer positiven Einstellung zu sich, ihrem Körpererleben und Körperpräsentieren fühlt sie sich durch die Figur Marie unterstützt.

Diese Kombination von "immer so cool drauf", "tolle Klamotten" und "immer eine ausgeflippte Frisur" hat auch ihre Tücken. Neben der Notwendigkeit von genügend freiverfügbarem Kapital, begrenzt dies auf die Attraktivität für andere (vgl. hierzu auch Permien in diesem Heft). Dies können (und wollen) viele 10- bis 15-Jährige vermutlich nicht durchschauen. Die Figur Marie wird für sie zur idealisierten Repräsentantin eines Lebensstils, wie sich erlebnisbetontes Mädchen-Sein gestalten kann. Die Soapfigur Marie scheint im Vergleich zu den sonst inszenierten Stereotypen auch durchaus eine aktive, selbstbestimmte junge Frau, die engagiert und kompetent agiert. In Konsequenz ist sie aber oftmals diejenige, die nur auf das Handeln anderer reagiert, die mit Katastrophen, die ihr geschehen, umgeht. Insofern ist sie dann doch nur bedingt selbstbestimmt. Ihre Handlungen bleiben im Detail - den Format-Konventionen entsprechend - flach und klischeehaft. Vielleicht bietet sie gerade deshalb für erstaunlich viele Mädchen eine Projektionsfläche, die aber eher Styling-Tipps als konkrete Orientierungshilfen geben.

"Was genau zu mir passt": Sich in dem Lebensgefühl (ästhetisch) wiederfinden
Für eine ganze Reihe von älteren Kindern und Jugendlichen stehen das Lebensgefühl und der (Lebens-)Stil der Soap im Mittelpunkt. Hierbei sind es weniger bestimmte Figuren oder spezifische Handlungsstränge, sondern die Atmosphäre, die Thematisierung potenzieller Jugendthemen und das Casting der Soap. In diesem Cluster sind vor allem Gute Zeiten, schlechte Zeiten-Sehende (Schwerpunkt 12 bis 14 Jahre) und in weit geringerem Maße ältere Jugendliche, die regelmäßig Verbotene Liebe sehen. Sie finden sich mit ihrem jeweiligen (Lebens-)Stil wieder und orientieren sich explizit an Trends, Mode und Styling der Soap. Eine entsprechende Vermutung führten bereits Göttlich und Nieland aus medienanalytischer Sicht aus und stellten diese theoretisch in den Kontext von Arbeiten zur Individualisierung, Erlebnisorientierung und Lebensstilforschung (Göttlich / Nieland 1998, 1999).

Julenka ist 12, geht in die 6. Klasse einer Hauptschule und sieht seit "ungefähr 3 oder 4 Jahren" "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Sie selbst beschreibt sich als Jugendliche und sieht die Soap als Darstellung alltäglicher Geschichten Jugendlicher: "Da sind Jugendliche, das geht um Liebe, Streit, es geht auch um Trennung und so was." Ihr gefällt besonders gut, "dass das Jugendliche spielen. (...)" und Marie ist ihre Lieblingsfigur, "weil die ist so jugendlich, die gefällt mir, die ist gut drauf." Auch bei der Figur Kai gefällt ihr die jugendliche und coole Art: "Kai, der ist mehr der Jugendliche, das mag ich auch so, mehr so cool drauf, so." Sie hat das Gefühl, Jugendlichkeit und jugendrelevante Themen stehen bei der Serie im Mittelpunkt. Sie findet ihre Vorstellungen wieder und orientiert sich an gezeigten Frisuren und Kleidung.

Die 10- bis 15-Jährigen dieses Clusters nehmen die Serie als gezielt für sie als Jugendliche gestaltet wahr. Es entsteht das Gefühl, die Trends und Lieder würden genau ihr Lebensgefühl ausdrücken. Mit dem Besitz von entsprechendem Merchandising und CDs lässt sich ein Stück dieses scheinbar genau getroffenen individuellen Lebensgefühls nach außen zeigen. Insbesondere das Medienarrangement "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" wird zum "eigenen" Stil als Konkretisierung der eigenen Identität. Die Anknüpfung an die dort gezeigten Trends und Moden und die Nutzung des Medienarrangements sind theoretisch eine Form der ästhetischen Aktivität (Willis 1992). Bei aller Faszination der jugendkulturellen Eigenaktivität darf hierbei nicht übersehen werden, dass sich die Medien- und Ereignisarrangements nicht originär an den Interessen der Kinder und Jugendlichen orientieren, sondern in einer klaren Marktlogik das anbieten, was sich gut verkauft. Die 10- bis 15-Jährigen sind hier in erster Linie Kundinnen.

"So ist es richtig": Ideale wiederfinden
In den Soaps werden Vorstellungen vom Umgang von Menschen miteinander inszeniert. Auf der Basis fester Freundschafts- und Bekanntenkreise werden mögliche Umgangsweisen mit Problembereichen vorgeführt. Dabei zeigen sich die deutschen Soaps in einer potenziell liberalen Grundeinstellung zu Themen wie Homosexualität oder HIV-Infizierung und einer an politischer Korrektheit orientierten Haltung. Für einige Jugendliche liegt hier der zentrale subjektive Gewinn, denn sie erkennen sich mit ihren Idealen wieder. Die Kinder (Tendenz 9 bis 13 Jahre, GZSZ-Sehende) und Jugendliche (Tendenz 14 bis 19 Jahre, Marienhof-Sehende) in diesem Cluster finden ihre Ideale in der Soap symbolisiert. Sie haben das Gefühl, hier wird das gezeigt, was sie sich selbst in ihrer Umwelt wünschen, was sie vermissen und versuchen, bestärkt durch die Soap, bewusst umzusetzen oder einzufordern.

Sabine ist 14 Jahre und sieht seit 2 Jahren "Marienhof" sowie "Verbotene Liebe", "Unter Uns" und "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". An ihrer Lieblingssoap "Marienhof" gefällt ihr besonders, "dass auch Dicke und Behinderte mitspielen dürfen und nicht nur schlanke (bzw. gesunde) Leute! Und dass man zeigt, was für Schwierigkeiten auftreten, wenn man behindert ist oder so!" Sie selber ist "ziemlich klein" und engagiert sich für Tierheimtiere. Im "Marienhof" findet sie die Art symbolisiert, wie mit körperlichen Abweichungen vom Ideal umgegangen werden kann. In der Art, wie dort Probleme abgearbeitet werden, findet sie sich mit ihrer sozialen Einstellung wieder. Für Sabine hilft die Soap, sich mit ihren Themen auseinander zu setzen und ihre eigenen Ideale weiter auszubauen.

Insbesondere der Marienhof mit der Betonung eines liberalen Umgangs mit Randgruppen eignet sich für dieses Wiederfinden von Idealen. Hier werden scheinbar die Probleme, die z.B. Menschen mit Behinderungen haben, inszeniert und so Einblick und Verständnis geweckt. Trotz löblicher Recherche, bleibt die Darstellung jedoch weiter hinter der Komplexität der real auftretenden Problembereiche zurück. Vermittelt wird vor allem eine politisch korrekte Haltung als "Philosophie" des Marienhofs. Tatsächlich bleiben es aber Klischees, in denen die Kinder und Jugendlichen sich mit ihren Idealen wiederfinden, die sie jedoch nur sehr bedingt ausdifferenzieren können.

 

III. Fehlendes im eigenen Leben medienspezifisch auffüllen bzw. überdecken

Für einige Kinder und vor allem Jugendliche steht in der Aneignung der Daily Soap eine Art von Ausgleichs- oder Ersatzfunktion im Vordergrund. Dies können eher unproblematische Freiräume als Ergänzung einer sonst durchaus erfüllten Alltagswelt sein, in der die Soap zum Resonanzboden für Gefühle oder parasoziale Beziehungen und Schwärmerein wird. Die Soap-Rezeption wird dazu genutzt, emotionale Leere, selbsterlebte Defizite oder problematische soziale Bedingungen zumindest für eine Zeit aufzufüllen bzw. zu überdecken.

"Ich denke und fühle voll mit": Soap als emotionaler Resonanzboden
Die Emotionalität der Soap ist für viele regelmäßige Soap-Rezipierenden wichtig. Die Spannung in den spektakulären Handlungsentwicklungen, die großen Katastrophen und Dramen, die sich im Leben der Protagonierenden abspielen, legen eine emotionale Einbindung nahe:

Miriam, 14 Jahre, ist seit über 6 Jahren "Gute Zeiten, schlechte Zeiten"-Fan: "Eigentlich lache und weine ich oft, da ich in tragischen oder lustigen Momenten so denke und fühle wie die jeweilige Figur."

Die 13-jährige Silke sagt über ihre Lieblingsserie "Marienhof": "Sie spiegelt meine Gefühle wider und das, was ich denke und fühle."

Weinen und Lachen vor dem Fernseher gehören zur normalen Soap-Erfahrung. Fast 3 von 5 der Kinder und Jugendlichen geben an, sie hätten schon einmal herzhaft gelacht und über die Hälfte beschreiben, wie sie bei besonders dramatischen Inszenierungen, beispielsweise dem Tod von Andy aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten, geweint haben.

Für einige Mädchen (vor allem ab 14 Jahren) steht das Mitfühlen im Mittelpunkt ihrer Aneignung. Sie steigen auf die spektakulären Handlungsstränge ein und fühlen mit den Protagonierenden mit. Subjektiv-thematisch wird die Soap, wie schon erwähnt, zum Resonanzboden für eigene Gefühle, die sie sich oftmals im sonstigen Alltag nicht zugestehen.

Katinka ist 14 Jahre und geht in die 8. Klasse eines Gymnasiums. Ihre Eltern sind beruflich erfolgreich und sie hat zwei ältere Brüder (20 und 32 Jahre). Seit ca. 5½ Jahren sieht sie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", was ihre Eltern eher als "Zeitverschwendung" abtun. Katinka selber verfasst Gedichte und beschreibt sich als "ehrlich, oft aber auch zickig" und vor allem aber als gute Freundin, die "sehr gut zuhören und trösten kann". Ihre eigene sensible und emotionale Art findet sie in der Soap wieder. Sie sagt von sich, sie könne sich "mit einer Person (Marie) identifizieren", weil sie "witzig, hübsch, spontan, ehrgeizig ist und Selbstvertrauen hat". Und fühlt in der Sendung "voll mit". Sie lacht "eigentlich bei jeder Sendung" und weint bei verschiedenen Szenen und Geschichten. Die Soap ermöglicht ihr einen Resonanzboden, der "lustig und traurig zugleich" ist, und würde sich noch "mehr Gefühle und Emotionen" in der Soap wünschen. Aus einem Alltag, der von kognitiver Anregung von Erwachsenen geprägt ist, nutzt Katinka die Soap als etwas, was sie sonst in ihrer Umgebung zu wenig hat: Zeit und Raum für Gefühle. Für Katinka bietet die Soap einen Raum, in dem sie sich mit ihren Emotionen wahrnehmen kann.

Dies kann zur Alltagsbewältigung einen wichtigen Beitrag leisten und mithelfen, schwierige Zeiten zu überbrücken. Zu wünschen wäre den Kindern und Jugendlichen allerdings, dass sie diese Resonanz auf sich in ihrer sozialen Umgebung erfahren und es genügend Raum dafür gäbe, sich zu spüren und auszudrücken. Der allabendliche Rückzug in die Soap kann so zum emotionalen Lückenfüller werden, der an den real existierenden Problemen vorbeigeht und entsprechend nur bedingt etwas ändert.

"So wäre ich gerne": Anhand einer Figur (unerreichbare) Idealvorstellungen entwickeln
Bei einer Reihe von Kindern (Tendenz bei 11-jährigen Gute Zeiten, schlechte Zeiten-Sehenden) und Jugendlichen (Tendenz 16- bis 17-jährige Marienhof-Sehende) steht eine oder zwei Figuren im Mittelpunkt ihrer Begeisterung. Im Unterschied zum Cluster "Sie ist wie ich", kennzeichnen sie sich in ihrer Selbstbeschreibung genau konträr zu der Figur, die sie bewundern. Häufig steht dies in Verbindung mit einem selbst erlebten Defizit und dem Gefühl von Unzulänglichkeit und Überforderung. Der allabendlichen Soap-Rezeption kommt hierbei eine Ersatzfunktion zu.

Kevin ist 11 Jahre alt, beschreibt sich als klein und schüchtern und geht in die 4. Klasse der Grundschule. In der Peer-Group fühlt er sich allein, "denn keiner redet mit mir". Jeden Abend sieht er seit 4 Jahren "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter. In der Soap bewundert er vor allem Kai und Moritz: "Kai, der ist cool und Moritz, weil er groß ist und gut aussieht." Mit ihnen wäre er gerne befreundet und "würde genau das Gleiche machen, was die zwei in der Soap machen: Quatsch und Blödsinn." Könnte er mitspielen, wäre er Kai und würde machen: "das, was er macht." "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" übernimmt für Kevin – in der Gemeinsamkeit und Übereinstimmung mit der Mutter – eine Ersatzfunktion für gewünschte Erfahrungen von (männlicher) Gemeinschaft und Anerkannt-Sein. Die Figur Kai mit ihrer frechen, draufgängerischen Art wird zum Bild, wie er gerne wäre, das aber (derzeit) für ihn unerreichbar bleibt.

Während bei den Jungen die Figur Kai Wunschfantasien zu eröffnen scheint, ist dies bei den 10- bis 15-jährigen Mädchen die Figur Marie hierbei eher auf das Aussehen und ihre Akzeptanz bezogen.

Conny, 14-jährige Realschülerin, sieht seit über 4 Jahren "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" und "Unter Uns". Sie schreibt: "Ich würde so gerne Marie sein aus ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘. Ich würde gerne so aussehen wie Marie."

Dieses Erleben eines eigenen Defizits ist bei Mädchen oftmals mit einer betont kritischen Selbstbeschreibung gekoppelt.

Sanja ist 13 Jahre und sieht regelmäßig "Unter Uns". Sie beginnt ihre Selbstbeschreibung mit den Worten: "Ich habe meistens Probleme und bin dick, fett, finde ich."

Das allabendliche verlässliche Ritual beruhigt und überdeckt zumindest für einige Zeit den selbsterlebten Mangel. Diese subjektiv-sinnhafte Aneignungsform ist jedoch gerade bei Mädchen, die zu ihrer Erscheinung eine ausgesprochen kritische Einstellung haben, trügerisch. Denn die Soap inszeniert junge und einem engen Schönheitsideal entsprechende Menschen, die mit ganz wenigen Ausnahmen ideal- oder untergewichtig sind. Damit wird der scheinbare Normalzustand in eine für die meisten kaum erreichbare Höhe getrieben. Dies verschärft den "Mythos Schönheit" (Wolf 1994) und lässt die eigene Körperlichkeit noch defizitärer erscheinen. Mit Figuren wie der Maike aus Marienhof, einer übergewichtigen aber selbstbewussten jungen Frau, wird dieses thematisiert. So können sich für Mädchen nachweislich Chancen und Fantasien von Selbstbewusstsein und erotischer Attraktivität eröffnen, auch wenn sie über keine untergewichtige Leiblichkeit verfügen. Dennoch bleibt Maike nicht nur die zurzeit einzige derartige Figur, sie symbolisiert durch ihre Abweichung auch ihre Randgruppenrolle und bestärkt damit, dass sie eben die Abweichung vom Normalen darstellt. Aus medienpädagogischer Sicht müsste es darum gehen, diese eng gesetzte Norm zu erweitern und zumindest ansatzweise die realexistierende Bandbreite von Körperlichkeiten zu berücksichtigen.

"Mit ihm auf Wolke sieben schweben" und "Es sind alles meine Freunde": Parasoziale Beziehungen zu den Soap-Figuren
Eine weitere typische Medienaneignungsform ist die parasoziale Beziehung zu den Medienfiguren. Jugendliche gehen in ihrer Fantasie eine Beziehung ein, das heißt sie setzen sich als Person gedanklich in eine freundschaftliche oder erotische Beziehung zu Figuren der Soap. Eine Variante dieser Mensch-Medien-Beziehung ist die parasoziale Einbindung in eine Gruppe mit dem Gefühl, also Teil dieser Gruppe zu sein und dazuzugehören. Für diese Gruppe vor allem älterer Kinder und Jugendlicher entsteht das Gefühl, alle Figuren persönlich zu kennen und mit ihnen befreundet zu sein. Häufiger wird eine einzelne Figur zur parasozialen Freundin, die jeden Abend zu einem nach Hause kommt und zu einem hält.

Johanna geht in die 6. Klasse einer Hauptschule und sieht seit 2½ Jahren "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Sie interessiert sich vor allem für die Schauspieler: "Die nehme ich dann meistens als Vorbilder für Frisuren und so und noch wie sie sich kleiden." An den Figuren gefällt ihr besonders, "dass sie sehr eng befreundet sind". Ihre eigene Lebenssituation, die durch einen erneuten Umzug in eine andere Stadt geprägt ist, überträgt sie auf die Soap und wäre, wenn sie mitspielen könnte, mit Marie befreundet: "Dass ich mit der Marie in deren Klasse wäre, dass ich als neue Schülerin in die Klasse gekommen wäre." Ihre eigene, unsichere momentane Lebenssituation wird für sie durch ihre Vorstellung, mit Marie befreundet zu sein und auf ihre freundschaftliche Hilfe zu hoffen, erträglicher.

Eine andere Variante dieser Mensch-Medien-Beziehung gehen Mädchen (Tendenz 13 bis 16 Jahre) ein, indem sie in ihrer Fantasie eine parasoziale Liebesbeziehung mit einer Figur entwickeln. Sie wählen sich entsprechend ihrer individuellen Themen und ihres ästhetischen Musters mediale Männerfiguren (in einem Fall eines homosexuell orientierten Mädchens die Frauenfigur Billi aus Marienhof) aus und entwickeln in ihrer Fantasie eine Partnerschaft. Die männlichen Figuren in den Daily Soaps bieten hier den weiblichen Zuschauern optimale Projektionsflächen. Sie sind gutaussehend und vor allem beziehungsorientiert.14

Silke ist 15 Jahre, geht in die 9. Klasse einer Realschule und interessiert sich sehr für Beziehungen. Seit 4 Jahren sieht sie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Täglich unterhält sie sich mit ihrer besten Freundin über "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" und bespricht, wer mit wem zusammen sein könnte oder wer nicht zusammen passt. Silke erzählt über sich: "Ich versetze mich auch in die Lage der Schauspieler und fühle mit ihnen mit. Ich denke auch manchmal das Gleiche wie sie." Besondere Bedeutung hat für Silke die Figur Chris: "Ich wäre gern die Freundin von Chris und würde mit ihm auf Wolke sieben schweben. Wir würden auch Höhen und Tiefen überwinden, aber wir blieben fest zusammen." Für Silke wird die Figur Chris symbolisches Material für eine gelingende (parasoziale) Liebesbeziehung, die sie mit der Freundin besprechen kann.

Die Fantasie einer erfüllten, dauerhaften Beziehung, die "auch Höhen und Tiefen" übersteht, ist den Mädchen nur zu gönnen. Es können hier dringend benötigte Freiräume eröffnet werden, die helfen, eigene Ansprüche an Partnerschaft gedanklich zu entwickeln und zu formulieren. In der Adoleszenz, einer Zeit, die von Ambivalenzen geprägt ist, von Verunsicherung und mangelndem Selbstvertrauen bei gleichzeitiger Außenorientierung, kann eine parasoziale Beziehung den Raum für Hoffnungen und Fantasien aktiver Gestaltung schaffen, ohne an die Grenzen sozial gelebter Beziehung zu stoßen. Der Markt nimmt dieses Moment dankend auf und bietet den Mädchen die entsprechenden erotisch-attraktiven aber nicht sexuell gefährlichen, knabenhaften Männertypen als Projektionsfläche an. In der realen sozialen Begegnung ist die Entwicklung einer für beide erfüllenden Beziehung jedoch immer komplizierter. Die parasoziale Beziehung schafft hier zwar Freiräume, die idealisierten und marktgerechten Wunschjungen sind für die reale Beziehungsarbeit aber nicht immer hilfreich.

"Ich tue alles für sie": Stars
Bei einigen Mädchen (Tendenz 13 bis 17 Jahre) steht nicht das, was auf dem Bildschirm ist, im eigentlichen Mittelpunkt ihrer Begeisterung, sondern die Schauspieler und Schauspielerinnen dahinter. Sie werden bewundert und erhöht, angeschrieben, angerufen und auf Fanclub-Events in persona gesehen.

Diana, 14 Jahre und "Marienhof"-Fan, schreibt: "Judith Hildebrand ist superlieb, offen, ehrlich und immer bereit für Fotos." "Ich kenne die meisten Schauspieler privat. Im ‚Marienhof‘ fühle ich mich schon zu Hause."

Ein intimeres Wissen um sie oder sogar ein Live-Ereignis prägt die gesamte weitere Rezeption. In diesem Cluster finden sich fast ausschließlich Marienhof-Fans. Durch Event-Management und semiprofessionelle Fanclub-Organisation schafft es der Marienhof wie keine andere Soap, das Gefühl einer persönlichen Verbindung zu den Schauspielern zu bieten. Subjektiv-thematisch geht dieses Aneignungsmuster für die Jugendlichen häufig mit Funktionen der Selbsterhöhung und Projektion eigener Machtfantasien einher. Oftmals verbindet sich dies mit eigenen Zukunftshoffnungen auf eine Schauspielkarriere. Gerade Soaps eignen sich hierfür, da sie scheinbar "relativ normale" Menschen massenhaft zu Stars machen.

Annalena ist 13 Jahre, geht in die 7. Klasse einer Realschule und sieht seit 1½ Jahren "Marienhof". Das erste Treffen mit den Stars war für Annalena ein einschneidendes Erlebnis und zugleich der Beginn ihrer Leidenschaft für den "Marienhof": "Ich habe bei einer Veranstaltung ein paar ‚Marienhof‘-Stars persönlich kennen gelernt und war so begeistert von ihnen, dass ich von da an jeden Tag ‚Marienhof‘ schaue." "Ich habe schon 10 Schauspieler privat getroffen. Ich fand, dass alle davon sehr nett, lieb und natürlich waren, vor allem zu ihren Fans." Um sich zu informieren, liest sie regelmäßig die "Marienhof"-Zeitschrift, ist im "Marienhof"-Fanclub und ihr größter Wunsch ist es, "alle Schauspieler kennen zu lernen." Für Annalena schafft die persönliche Begegnung die Grundlage für ihre "Marienhof"-Begeisterung.

Die Schwärmerei für einen Star ist auf individueller Ebene geeignet, sich durch besonderes Wissen, Merchandisingartikel oder sogar aufgrund einer direkten Begegnung aus der Masse herauszuheben und sich als etwas Besonderes wahrzunehmen. Oftmals haben die Jugendlichen das Gefühl, spezielles Insiderwissen zu besitzen und die Schauspieler "persönlich" zu kennen (und zum Teil mit ihnen befreundet zu sein). Merchandisingindustrie und Serienmagazine nutzen diese Gefühlslage aus und und tun so, als ob sie Informationen "direkt vom Set" und "ganz privat" vermitteln könnten. Tatsächlich gewähren sie weder Einblick in die Privatsphäre noch in den Produktionsalltag. Durch dieses Vorgehen entsteht der Wunsch nach einer eigenen Schauspielkarriere, den fast alle Jugendlichen dieser Gruppe formulieren. Als konkrete Zukunftsperspektive ist dies jedoch weitestgehend illusorisch, denn hier gehen sie einem geschickt gestrickten Marketingkonzept mit den Träumen der Mädchen auf den Leim.

Folgekommunikation und interaktive Funktionen (vgl. Eva-Susanne Vocke)
In der internationalen Soap-Forschung wurde immer wieder die besondere Bedeutung der Folgekommunikation hervorgehoben (vgl. u.a. Brown 1994, Harrington/Biely 1995), ein Aspekt, der auch bei Kindern und Jugendlichen eine ganz wichtige Komponente der Soap-Aneignung ist. Vier von fünf der Befragten geben an, sich über die Inhalte auszutauschen. FreundInnen, MitschülerInnen und Geschwister sind hierbei die häufigsten Ansprechpartner. Der Folgekommunikation können dabei unterschiedliche Funktionen zukommen: So bietet das Soap-Gespräch beispielsweise Möglichkeiten, Kontakte zu Gleichaltrigen herzustellen bzw. sich in Gespräche zu integrieren. Besteht bereits eine Freundschaft, können die Ereignisse der Soap als Gesprächsaufhänger dienen, denen eine tiefergehende Unterhaltung folgt.

Iris, 13 Jahre, sieht regelmäßig "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" und erzählt, sie unterhält sich "meistens im Pausenhof mit meiner Freundin oder am Telefon. Wir reden über unsere Lieblingsstars, was am vorherigen Tag passiert ist und wie es wahrscheinlich weitergeht. Wenn es ganz spannend aufhört, rufe ich immer meine Freundin an und sage: Hast Du das gesehen?"

Gleiches gilt für die schriftliche Folgekommunikation: Der Austausch über Soaps und Lieblingsschauspieler stellt einen Anknüpfungspunkt dar und wird für die Anbahnung und Gestaltung von Brieffreundschaften genutzt.

Jo, 15 Jahre, ist seit Jahren begeisterter "Marienhof"-Fan. Er schildert das so: "Mit meiner Brieffreundin diskutiere ich per Brief über die Soaps. Unsere Themen sind: Handlungen, neue Frisuren der Schauspieler..."

In der Interaktion mit anderen spielen Spaß und Lustiges eine große Rolle. Die Soap-Ereignisse werden gemeinsam mit anderen nach- und auch neu erlebt: Szenen werden nacherzählt, imitiert oder im Rollenspiel wiederholt. Kreativität kann zum entscheidenden Moment der Freundschaftsgestaltung werden, wenn der Fortgang der Handlung im Gespräch "weitergesponnen" oder im Rollenspiel weitergespielt wird.

Neben der Gruppenbildung, kommt der Folgekommunikation eine distinktive Funktion zu. Das Soap-Gespräch ermöglicht einerseits die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, wie den Soap-Sehenden allgemein oder den Marienhof–Fans. Damit ist andererseits immer auch eine Abgrenzung verbunden, beispielsweise Marienhof-Fans gegen "GZSZ"-Fans oder Soap-Sehende gegen Soap-Ablehnende. Distinktion findet hierbei häufig mittels Genrekompetenz, z.B. durch Wissen über Soap, Schauspieler und Produktion statt.

Als symbolisches Material zur Verhandlung von Werten kommt der Soap eine dritte interaktive Funktion zu. Dabei stellen die gezeigten Handlungen und Figuren symbolisches Material dar, anhand dessen Werte und Normen diskutierbar werden und das eine Auseinandersetzung mit kritischen Themen möglich macht. Soaps bieten inhaltlich neben den gängigen Beziehungsthemen auch typische Jugendthematiken sowie gesellschaftlich relevante, kritische Themen an. Die eigenen Meinungen und Vorstellungen von "richtig und falsch" werden im Rahmen der Folgekommunikation verbalisiert und mit denen des sozialen Umfelds diskutiert.

Julenka, 12 Jahre, berichtet: "Meine Freundin, mit der unterhalte ich mich immer, wenn ich bei ihr gucke oder sie bei mir, und manchmal, wenn was total Schlimmes passiert oder total Gutes, dann rufen wir uns manchmal an und reden so darüber."

Für die familiäre Folgekommunikation kann festgehalten werden, dass Kinder und Jugendliche generell weniger mit ihren Eltern und Geschwistern sprechen als mit Freunden und Mitschülern. Die Unterhaltungen über die Soaps mit den Geschwistern und ihre interaktive Funktion unterscheiden sich jedoch nicht von denen mit anderen Peers. Auf die Unterhaltungen mit den Eltern, besonders den Müttern, lassen sich ebenfalls die beschriebenen interaktiven Funktionen übertragen: Anbahnung und Pflege von Freundschaft kann hier als Gestaltung familiärer (Eltern-Kind-)Beziehungen verstanden werden. Die gemeinsame Rezeption (vgl. situative Funktion) ermöglicht parallel zur laufenden Soap eine Unterhaltung und im Anschluss an die Rezeptionssituation eine Folgekommunikation im häuslichen Kontext. Gruppenbildung und Abgrenzung durch Distinktion finden, wie unter den Gleichaltrigen, auch in der Familie statt. Dabei spielt jedoch die Genrekompetenz eine weniger große Rolle, als vielmehr die Abgrenzung zu den (der Soap gegenüber negativ eingestellten) Eltern oder aber die (mit der Mutter) geteilte Begeisterung für die Soap.

Die 15-jährige Jeanette geht auf die Sonderschule und sieht seit über 4 Jahren alle Soaps. Sie berichtet: "Dienstags holt meine Mutter mich ab und dann gehen wir zu meinem Opa essen und essen dort. Da wird dann stundenlang über die Soaps ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘, ‚Unter Uns‘, ‚Marienhof‘ und ‚Verbotene Liebe‘ gesprochen. Soaps gehören mittlerweile zu meiner täglichen Portion dazu. Aber auch meine Mutter, wir reden über das, was wir gut oder schlecht finden. Beim ‚Marienhof‘ und der ‚Verbotenen Liebe‘ kennt meine Mutter sich nicht aus. Sie schaut leider ‚Unter Uns‘ und ‚GZSZ‘. Aber ich habe schon oft versucht, sie zu den anderen zwei Soaps zu führen. Bisher leider ohne Glück."

Gerade im Mutter-Tochter-Gespräch wird die Soap zum symbolischen Material, mit dem nicht nur soziale Beziehungen, sondern auch Werte und vermutlich eigene Probleme (symbolisch) bearbeitet werden.

"Wenn die Soap läuft, habe ich für niemanden Zeit. Da bin nur ich und die Soap": Situative Funktionen
Neben den subjektiv-thematischen Funktionen und den interaktiven Funktionen kommt der Daily Soap eine nicht zu unterschätzende situative Bedeutung zu. Denn für Kinder und Jugendliche, welche eine oder mehrere Daily Soaps als ihre Lieblingssendung bezeichnen, geht dies mit einer deutlichen Strukturierung ihres Alltags einher. Die meistgenannte Antwort auf die Frage: "Was hat sich in Deinem Leben verändert, seit Du die Soap siehst?"15 ist eine selbst wahrgenommene Veränderung der Zeitstruktur:


Valentine ist 10 und sieht seit 2 Jahren "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Sie erzählt, was sich seitdem in ihrem Leben verändert hat: "Vorher bin ich im Stall und dann laufe ich immer um halb acht wie von einer Tarantel gestochen nach Hause."


Bei den Grundschul- und Orientierungsstufenkindern ist die Rezeption oftmals in die Gemeinsamkeit mit der Familie und ihren Alltagsrhythmus eingebaut und auch Teil des gemeinsamen Abendbrotessens. Die gemeinsame Rezeption wird zum Raum für Nähe und Distanz in der Familie. Eine solche Situation wird auch als Möglichkeiten zum Austausch von (konträren) Einstellungen und Gedanken genutzt oder aber bietet Zeit zum wortlosen Rückzug bei gleichzeitiger Gemeinsamkeit. Dies kann sowohl im gleichen Raum wie auch bei gleichzeitiger Rezeption in unterschiedlichen Zimmern stattfinden. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl derjenigen, die sich die Rezeption gezielt ohne Familie inszenieren. Oftmals vermeiden sie dabei bewusst den Kontakt zu anderen.


Nina (15 Jahre) beschreibt: "Wenn das Telefon während der Soap klingelt, gehe ich nicht dran oder beende das Gespräch sofort wieder, damit ich nichts verpasse."

Zimmer der 13-jährigen Nicole

Eva ist 14 Jahre und sieht "Marienhof" von der ersten Folge an. Nach eigenen Aussagen hat sie in den letzten 3 Jahren nicht mehr als 5 Folgen verpasst und zeichnet zudem alle Sendungen auf Video auf. Sie beschreibt ihre Rezeptionssituation: "Ich sitze auf dem Sofa (in meinem Zimmer) und jeder in meiner Familie weiß genau, dass er mich jetzt mal in Ruhe lassen soll und nicht stören soll, was auch niemand mehr wagt!"

Die allabendliche Soap-Rezeption, häufig in der Kombination mehrerer Soaps, wird zu einer Zeitspanne, die die Mädchen für sich einfordern, wie eine Michaela beschreibt: "Diese gute 1 Stunde ganz für mich – ohne irgendwelche Zwischenfälle". Die Mädchen gestalten sich die entsprechende Situation, mit Essenswaren wie Süßigkeiten oder Chips, und nutzen die Sendezeit als "Raum für sich".

Christel ist 15 Jahre und sieht seit 5 Jahren auch "Marienhof" und "Unter Uns". Ihre absolute Lieblingssoap ist jedoch "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Inhaltlich interessieren Christel Natürlichkeit und Authentizität und sie genießt die Möglichkeit mitzufühlen. Besonders die Romantik und Liebesbeziehungen interessieren sie, was gut zu ihren derzeit neuen Erfahrungen passt, denn sie hat gerade ihren "ersten, besten und guten Freund gefunden". Ihre Eltern sind sich sicher, dass sie es mit ihrer Soap-Begeisterung übertreibt und haben für die Begeisterung kein Verständnis. Davon lässt Christel sich jedoch nicht abbringen. Sie sagt von sich, "dass ich ohne sie nicht leben kann, und wenn ich sie nicht sehe, dann denke ich immer, was passieren kann." Jeden Abend erkämpft sie sich ihren Freiraum. "Ich setze mich in mein Zimmer auf das Bett und schalte den Fernseher an. Wenn die Soap läuft, habe ich für niemanden Zeit. Da bin nur ich und die Soap."

Formatspezifische Besonderheiten in der Rezeption von "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", "Marienhof" und "Verbotene Liebe"16
Insgesamt lässt sich zwischen den 4 Daily Soaps eine potenzielle Ähnlichkeit in der Aneignung nachweisen, dennoch zeigen sich formatspezifische Schwerpunkte. In der Rezeption von Gute Zeiten, schlechte Zeiten steht vor allem Lifestyle im Mittelpunkt – und die Figur Marie (für die Jungen Kai), die diesen repräsentiert. Die 10- bis 15-Jährigen genießen die "Atmosphäre von Jugendlichkeit", finden sich ästhetisch wieder und nutzen es als Stil. Bei Marienhof ist es vor allem die liberale Grundphilosophie, die sog. Randgruppen an zentraler Position inszeniert. Eine weitere besondere Rolle spielen beim Marienhof die Schauspieler, die hier zu potenziell erreichbaren Stars inszeniert werden. In der Rezeption von Verbotene Liebe steht schwerpunktmäßig das Ansehen von Liebe und Beziehung im Mittelpunkt. Insbesondere Gymnasiastinnen entwickeln eine wahre Freude an ihrer Kompetenz, die für Außenstehende kaum nachzuvollziehenden Verwicklungen "verbotener Liebe" in Sinnzusammenhänge zu stellen.

Schloss Einstein: "Da ist eine Klasse, und die hält immer ganz doll zusammen"
Seit Oktober 1998 strahlen die ARD und der Kinderkanal ADR/ZDF eine Serie aus, die sich bewusst an das Genre Soap anlehnt: Schloss Einstein. Um die Schülerinnen und Schüler der 6. und 7. Klasse eines Internats herum, werden hier in jeweils 3, selten 4 Geschichten mit Kindern für Kinder parallel erzählt (vgl. Hermann 2000, S. 68). Von den Produzierenden werden sie jeweils als Abenteuer-, Beziehungs- und Comedystrang gekennzeichnet. (vgl. Saldecki in diesem Heft). In der Teilstudie zur Rezeption dieser "Kinder-Soap" wurden Einzelinterviews mit 40 Kindern durchgeführt, die diese Serie als ihre Lieblingsserie bezeichnen. Zunächst zeigt sich, dass sowohl in der täglichen als auch in der wöchentlichen Ausstrahlung Schloss Einstein eine Sendung ist, die Kinder eher alleine oder mit Geschwistern sehen. Die Haltung der Eltern gegenüber der Serie wird von allen Befragten als positiv eingeschätzt; sie sehen die Sendung jedoch nur ganz selten mit. In der Folgekommunikation entstehen entweder intensive Gespräche – vor allem mit den Geschwistern –, in denen Handlungen und Vorkommnisse diskutiert werden, oder Gespräche mit FreundInnen über die lustigen Momente der Sendung.

Ähnlich wie bei den Daily Soaps die spektakulären Handlungsstränge, gehört bei Schloss Einstein der Abenteuerstrang zu den "Basics" der Rezeption. Das heißt, die Spannung, die die Kinder erleben, wenn eine Bombe oder ein Schatz gefunden wird, ist für alle wichtig und ein offensichtliches Motiv, die Sendung zu sehen. Auf tiefer liegender Ebene stehen die Abenteuer jedoch nur für einige ältere Grundschulkinder (9 bis 10 Jahre) im Vordergrund.

Für alle Kinder ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche die Hauptrollen spielen. Für einige wenige waren ganz spezielle Figuren der Hauptgrund, die Sendung regelmäßig zu sehen. Ähnlich wie bei den Soaps erkennen sie sich bei Schloss Einstein in einer Figur wieder. Bei den Mädchen scheint dies vor allem die Figur Nadine (für Mädchen 9 bis 10 Jahre) und bei den Jungen Oliver (für Jungen 10 bis 12 Jahre) zu eröffnen.

Für einige ältere Grundschulkinder (10 bis 11 Jahre) war Schloss Einstein vor allem deswegen besonders bedeutsam, weil es ihnen eine eigene Welt bietet. Die Eltern finden es gut, dass sie die Sendung sehen; sie selbst sehen sie aber nicht unbedingt mit an. Die Kinder genießen es, dass Schloss Einstein keine Serie für "ganz Kleine" (genannt: Teletubbies), keine ausschließliche "Witzesendung" (genannt: verschiedene Zeichentrickangebote) und nicht "eine Sendung für Ältere" (genannt u.a. Marienhof) ist. Es ist eine Serie, die die "Betweens" als gezielt für ihre Altersgruppe produziert wahrnehmen. Eingebunden in den verlässlichen Kontext einer Kindermedienwelt haben sie hier etwas speziell für sich (ähnlich der Atmosphäre von Jugendlichkeit bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten).

Bei dem größeren Teil der 40 Kinder lässt sich der Umgang mit Schloss Einstein mit den aus der Aneignung von Daily Soaps entwickelten typischen Aneignungsmustern nur bedingt beschreiben. Denn im Unterschied zur Soapaneignung nehmen die Kinder sich aus Schloss Einstein Konkretes heraus. Dies sind einzelne Handlungsstränge, wie die Geschichte des Jungen Aram, kleine Geschichten, wie Kinder, die sich heimlich über den Boden in die bereits laufende Schulstunde schleichen, oder bestimmte Szenen, wie Oliver, der mit seinem Fahrrad scharf bremst. Diese Versatzstücke bauen die Kinder in ihre Bearbeitung konkreter Erlebnisse, Ängste oder Wünsche ein. Diese enge Durchdringung von einzelnen Handlungssträngen, kleinen Geschichten und Szenen mit den konkreten Themen der Kinder zeigte sich bei den regelmäßig Soap-Sehenden nur sehr selten. Die dort erzählten Katastrophen, Intrigen und Schicksalsschläge sind für die Bearbeitung der handlungsleitenden Themen eher grobe Projektionsfläche als konkretes Material.

Medienanalytisch ist dies gut nachvollziehbar, denn die spektakulären Handlungsstränge der Daily Soap dienen vor allem zur Inszenierung der Figuren. Die überdramatisierten Handlungsstränge der Soap sind wie Seifenblasen über einem festen, verlässlichen Kern. In der Aneignung lassen sich Kinder und Jugendliche von diesen Seifenblasen unterhalten. Zur Bearbeitung ihrer Themen nutzen regelmäßig Daily Soap-Sehende jedoch eher den verlässlichen Kern.

Bei Schloss Einstein projizieren die Kinder ihre Themen in die einzelnen Szenen, kleinen Geschichten oder Handlungsstränge. Auch hier lassen sie viel von dem in der Serie Angebotenen aus, finden beispielsweise den Abenteuerstrang spannend und lassen sich von ihm unterhalten. An bestimmten Stellen nutzen sie die Serie jedoch gezielt zur Bearbeitung konkreter Themen. Vermutlich bieten diese Stellen genau den Resonanzboden, den sie suchen. Fallvergleichend lassen sich diese Moment unter dem Motiv "Grundsetting Internat" zusammenfassen. Bei Schloss Einstein sind Kinder unter sich, müssen gemeinsam ihre Probleme lösen und ihren Alltag gestalten. Erwachsene bilden nur den Rahmen und sind manchmal selbst Anlass für Probleme; vor allem aber stellen sie sicher, dass keine wirklich verletzenden Übergriffe möglich sind. Kinder, die sich für diese Serie begeistern, nehmen dies auf. Besonders willkommen sind dabei Geschichten, in denen Kinder sich zusammenschließen (z.B. gegen Erwachsene) und dabei die Annäherung an das andere Geschlecht unauffällig möglich wird. Andere Szenen, die Kinder zur Bearbeitung ihrer Themen nutzen, sind diejenigen Szenen und kleinen Geschichten, in denen spezielle Kompetenzen (z.B. Internet, Sport) bewiesen werden. Das Internats-Setting, zum Teil von den Kindern in den intertextuellen Kontext zu Harry Potter und Hanni und Nanni gestellt, symbolisiert vermutlich ein Grundgefühl des Schulkinderalltags. Im Mittelpunkt der Lebenswelt steht aus der Sicht der Kinder nicht mehr die Familie, sondern die Auseinandersetzung unter Gleichaltrigen. Dabei sind die Kinder in ihren Problemen und Erlebnissen auf sich selber gestellt.

Mehrere Kinder berichteten, sie würden häufig von Schloss Einstein träumen. Bewegende Szenen aus der Serie werden hier mit eigenen Ängsten verbunden. In den Träumen ist Schloss Einstein dabei kein isolierter Rückzugsraum, sondern ein Ort, an dem die Kinder ihre Probleme mitnehmen und es ihnen – zumindest im Traum – gelingt, einige Dinge positiv zu regeln. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass Schloss Einstein, trotz aller offensichtlichen Ähnlichkeit zur Soap Opera von der Rezeption dichter am Kinderfilm als an der Daily Soap liegt.

Big Brother: "Ich wäre gerne Zlatko!".

Eines der derzeit meist diskutierten Formate mit ausgesprochenem Erfolg bei den 10- bis 15-Jährigen ist Big Brother. Das Grundkonzept der Sendung ist eine nach den Darstellungsweisen und der Dramaturgie von Soap Operas inszenierte verhaltens- und persönlichkeitsorientierte Spielshow (vgl. Mikos et al. 2000, S. 205). Insofern bot es sich an, im Rahmen der Studie als zweites Vergleichsformat Big Brother mit 53 Einzelinterviews zur Zeit der 1. Staffel einzubeziehen.17

In der interaktiven und situativen Funktion zeigten sich zunächst altersspezifische Unterschiede, die an der Grenze von der Grundschule zur Orientierungsstufe bzw. weiterführenden Schule deutlich wurden. Für Grundschulkinder ist Big Brother ein Format, das sie sich regelmäßig mit ihren Eltern ansehen. Entsprechend sind dies auch die Menschen, mit denen am häufigsten über die Sendung gesprochen wurde. In der Orientierungsstufe wird Big Brother dann eher allein oder mit den Geschwistern gesehen. Zunehmend kommt dem Format interaktive Funktion zu. "In der Schule haben immer alle darüber geredet und dann hab ich sie auch mal gesehen." beschreibt die 12-jährige Marie-Christin. Big Brother muss dabei thematisch nicht übermäßig interessant sein, aber es ist "Pflicht" in der Peer-Group und wird deshalb gesehen.

Eine spezifische situative Funktion kam Big Brother vor allem unter den älteren Mädchen der Stichprobe zu. Es ist die Verlängerung von Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Oftmals gaben sie sich als Fan beider Serien aus und erzählten, wie sie direkt im Anschluss an die Soap zu Big Brother umschalten. Das seit Jahren regelmäßig existierende Ritual um die Daily Soap wird so um eine Stunde in den Abend hinein verlängert. Neben den so geschaffenen Kommunikationsanlässen stand für diese Mädchen die parasoziale Einbindung in die feste Gemeinschaft im Mittelpunkt.

Von den Aneignungsmustern ist Big Brother den Daily Soaps strukturell ähnlich, jedoch mit eigenen inhaltlichen Schwerpunkten. Für den größten Teil der Kinder steht das Ansehen von Gemeinsamkeit und (inszeniertem) Alltag im Vordergrund. Bei Big Brother machen Menschen etwas zusammen und haben gemeinsam Spaß. Die Kinder genießen die lustigen und freudvollen Momente, die Harmonie und das gemeinschaftliche Lösen von Aufgaben. Bei aller scheinbaren Harmlosigkeit dieses Aneignungsmusters darf nicht vergessen werden, dass hier die "totale Überwachung" als völlig selbstverständlich übernommen wird. Für einige ältere Kinder steht im Vordergrund, dass hier das "richtige Leben" gefilmt wird. Schwerpunktmäßig nutzen Jungen dies zur Entwicklung eines "Stil des Authentischen". Sie finden sich (in intertextuellen Beziehung zu Stefan Raab und TV total) ästhetisch wieder und zeigen dies gerne gegenüber anderen. Ein weiteres typisches Aneignungsmuster ist das "Ansehen" von Männer- und Frauenfiguren. In der interaktiven Funktion wurde es insbesondere bei den Jungen zur Gelegenheit, um über Möglichkeiten des Mann-Seins zu kommunizieren.

Hier passt sich ein Medium in die männliche Sozialisation ein, indem es Gelegenheiten schafft, über ein schwieriges Thema zu kommunizieren (vgl. Winter in diesem Heft). Für Jungen ist derzeit Authentizität und "Normal-Sein" die entscheidende Orientierungslinie (vgl. Winter/Neubauer 1998, S. 152). Echt- und Witzig-Sein sind die neuen Ideale (vgl. auch Zimmermann 1999). Big Brother inszeniert genau diese Authentizität und das ‚Normal-Sein‘ von Menschen – vor allem von Männern. Besonders die Figuren Jürgen und Zlatko schienen das Authentisch- und Witzig-Sein zu visualisieren. Die Figur Zlatko wird zur Personifizierung von körperorientierter Männlichkeit, Teamgeist und Männerfreundschaft. Er ist alles andere als perfekt, kann damit aber selbstbewusst leben. Insofern stand bei einigen Jungen die Entwicklung von (unerreichbaren) Wunschvorstellungen im Vordergrund der Aneignung. "Ich wäre gerne Zlatko!" erzählt wie mehrere andere auch der 13-jährige Mario.

In mehreren Fällen als weitere subjektiv-thematische Funktion, in einem Fall im Vordergrund, steht das Wiederfinden und Weiterentwickeln des Deutungsmusters: die Ausgrenzung und Abwertung unbeliebter Figuren. Das Grundkonzept der Sendung ist eine nach den Darstellungsweisen und der Dramaturgie von Soap Operas inszenierte verhaltens- und persönlichkeitsorientierte Spielshow (vgl. Mikos et al. 2000, S. 205). Nominiert und herausgewählt wird nicht aufgrund bestimmter spezifischer Fähigkeiten etwa sportlicher Art oder im Bereich von Wissen oder Geschick, noch spielt das Glück eine entscheidende Rolle. Hier werden Menschen als Ganzes, d.h. wegen ihres (inszenierten) Habitus, ihrer Meinungen oder sonstigem herausgewählt. Für einige – und hier vor allem Jungen – spielt die Freude an der Ausgrenzung eine wichtige Rolle. Dies war oft dann der Fall, wenn die Angst vor der Ausgrenzung ein wichtiges handlungsleitendes Thema war. Big Brother ist für sie hier doppelt interessant. Es ist im Trend, d.h. die Begeisterung minimiert die Gefahr, nicht "in" zu sein, und gleichzeitig finden sie ihr Thema wieder, können es aber aktiv von sich wegleiten, indem sie selber anfangen, andere (z.B. Manu) auszugrenzen. Dieses Deutungsmuster, das nicht nur aber auch mit Big Brother entwickelt wird, hilft hier jedoch auf individueller Ebene nicht. Denn implizit verstärkt es die Vorstellung, dass die, die nicht im Trend liegen "raus müssen". Auf gesellschaftlicher Ebene ist dieses Deutungsmuster ausgesprochen problematisch.

Big Brother ist in der Aneignung relativ ähnlich der Daily Soap. Während es für die Mädchen ohnehin oftmals eine Fortsetzung der allabendlichen Gute Zeiten, schlechte Zeiten- Rezeption ist, eröffnet es für die Jungen subjektiv-thematische und interaktive Funktionen, die sie sich mit dem als weiblich konnotierten Format Soap Opera nicht zugestehen würden.

Die Bedeutung der Daily Soaps für 10- bis 15-jährige Mädchen

Die Hintergründe, warum Mädchen so massenhaft Daily Soaps nutzen, sind vielschichtig. Zunächst hängt es mit dem Angebot zusammen. Während im sonstigen Fernsehprogramm und insbesondere im Kinderfernsehen Männerfiguren dominieren (vgl. Götz 1999a), ist bei den Daily Soaps das Zahlenverhältnis von Frauen- und Männerfiguren meist ausgeglichen. Zahlenmäßig sind sie sogar präsenter als Hauptakteure (Göttlich 2000, S. 41). Die Soap-Frauen sind meist berufstätig, in einen Freundeskreis und Liebesbeziehungen eingebunden. Hier spiegeln sich die Orientierung und die Realität von Mädchen oftmals eher wider als in den sonstigen Angeboten.

Die besondere Bedeutung des Genres für Mädchen ist jedoch noch sehr viel tiefer in der geschlechterspezifischen Sozialisation eingebunden; denn die weibliche Adoleszenz ist eine ausgesprochen ambivalente Zeit. Sie ist durch den zunehmenden Verweis auf die eigene Körperlichkeit und erotische Attraktivität für andere gekennzeichnet. Die Überhöhung eines enggesteckten Schönheitsideals und gesellschaftliche Missachtung weiblicher Körperlichkeit (beispielsweise Menstruation), kombiniert mit den als verunsichernd erlebten Körperveränderungen, führen zu einem meist überkritischen Verhältnis zum eigenen Körper. Gleichzeitig ist der Körper derzeit zentraler Punkt der Selbstpräsentation in der Jugendkultur und Mädchen fordern selbstbewusst ihr Recht auf freie Körperpräsentation ein. Schnell wird die neue Freiheit, den Bauchnabel zu piercen und frei zu tragen, zum Zwang, auch eine entsprechend präsentable Körperlichkeit vorzuweisen. Neue Freiheiten und alte Reglementierung liegen hier dicht beieinander (vgl. Stauber 2000, S. 5). Mädchen heute müssen nicht nur schön und schlank, sondern vor allem selbstbewusst sein und wissen, wo es hingeht – und das in einer Zeit, die eigentlich von Verunsicherung geprägt ist. Mädchen gehen mit diesen Ambivalenzen derzeit scheinbar eher konfliktverdeckend um. "Immer weniger wird über Probleme gesprochen. Probleme zu haben ist out" (Stauber 2000, S. 6). Die Mädchen nehmen sich, ihre Wahrnehmungen und ihr Beziehungswissen aus der Öffentlichkeit heraus in den Untergrund. Was wirklich bewegt, wird nur noch mit den besten Freundinnen oder dem Tagebuch besprochen. Die Arbeitsgruppe um Lyn Brown und Carol Gilligan nennt dieses Phänomen ein wenig pathetisch den "Verlust der Stimme" (1994), der unter Umständen mit der Unverbundenheit bzw. Loslösung von den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen einhergeht.

Hier setzt die Soap an. Inhaltlich wird genau das inszeniert, was die Mädchen sich nicht mehr zugestehen: Probleme, die geradezu exzessiv gewälzt und besprochen werden. In einigen Fällen artikulieren Mädchen, wie sie sich mit ihren als katastrophal erlebten Problemen symbolisch in den Intrigen und Schicksalsschlägen der Soap wiederfinden. Dies lässt vermuten, dass die Soap die eigene, aufgewühlte Gefühlswelt dieser Zeit symbolisiert. Die Rezeptionssituation, die die Mädchen sich so gezielt als eigenen Raum erkämpfen, wird zum Resonanzboden, um sich zu erleben und zu seinen Emotionen in Kontakt zu bleiben.

So angenehm diese Freiräume für die einzelnen auch sein mögen, aus (medien-) pädagogischer Perspektive haben sie auch ihre Tücken. Denn der Raum, in dem die Mädchen sich einrichten, ist durch die Logik des Marktes vorstrukturiert. Sie werden als Werbekundinnen und Merchandisingabnehmerinnen verkauft und ihre Begeisterung lässt einen ganzen Printbereich erblühen (vgl. Kaiser in diesem Heft). Insbesondere Gute Zeiten, schlechte Zeiten gelingt es, die Kombination von (übergroßen) Problemen und positivem jugendlichen Lebensgefühl zu inszenieren. Krönung dieser Kombination ist die Figur Marie. Sie scheint für viele Mädchen genau das zu symbolisieren, wie sie sich fühlen und wie sie gerne wären. Marie ist schön, schlank und selbstbewusst. Sie schafft es, Probleme offen und direkt zu thematisieren und selbst Peinlichkeiten ohne Einbußen im Selbstwertgefühl einzustecken. Gerade Mädchen mit einem positiven Selbstbild finden sich in ihr wieder: "Sie ist fast genau wie ich."

Diese zentrale Position der Figur zeigt nicht nur, wie erfolgreich eine Figur aufgebaut und an exponierte Stelle eines Merchandisingkonzepts gestellt wird. Es zeigt vor allem, wie sehr Mädchen diese Figuren suchen – Mädchenfiguren, die nicht nur schön (wie die meisten herkömmlichen Stereotypen) und stark (wie die "neuen Heldinnen"), sondern auch sozialkompetent, mal schwach und ungeschickt und trotzdem voller erlebnisorientiertem Selbstbewusstsein sind. Die Soap-Figur Marie kann hier nur ein Schritt gewesen sein, denn in Konsequenz bleibt sie immer stereotyp, entwickelt sich wie alle Soap-Figuren kaum weiter. Deshalb hilft sie den Mädchen nur wenig, bleibt sie doch plastikhafte Schablone einer 15-Jährigen.

Fazit: Alles nur Seifenblasen?

Aneignung ist individuell unterschiedlich. Entsprechend lässt sich nicht von der Rezeption oder der Bedeutung von Soaps bzw. soapähnlichen Formaten im Alltag von 10- bis 15-Jährigen sprechen. Die Soap-Rezeption eröffnet Chancen, hat aber auch deutliche Grenzen, beispielsweise auf individueller Ebene der Alltagsbewältigung, des Selbstbildes und bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Im Vergleich zur Rezeption von Schloss Einstein zeigt sich, dass die Daily Soaps wenig Konkretes für die Bearbeitung der eigenen Themen zur Verfügung stellen, sondern oftmals nur klischeehafte Projektionsflächen liefern. Im Vergleich mit der Rezeption von Big Brother wird die besondere Bedeutung impliziter Deutungsmuster noch einmal deutlich, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich als problematisch einzuschätzen sind. Für Mädchen bietet die Daily Soap einen Raum, der ihnen Hilfestellung und Rückversicherung in turbulenter Zeit sein kann. In Figuren wie der Marie Balzer aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten werden gegenüber dem sonstigen Angebot erweiterte Bilder von Mädchen-Sein angeboten und dankbar angenommen. Doch bieten derartige, scheinbar innovative Figuren kaum wirkliche Ausdifferenzierung oder Weiterentwicklung der Problematik, sondern vor allem stilistische Orientierung, die Mädchen vor allem als Kundinnen ansieht.

Aus der individuellen Sinnperspektive ist dies wenig relevant, denn die Soap bietet das, was die Mädchen suchen: Unterhaltung, Information, Widerspiegeln des eigenen Lebensgefühls und Werteorientierung. Hier bietet die Daily Soap medienspezifische Räume als Ersatz für Fehlendes in der eigenen Lebenswelt und um – überdeckend in schwierige Zeiten – einen "Raum für sich" einzufordern und zu gestalten. 10- bis 15-jährige Mädchen lieben ihre Seifenblasen, sie scheinen ihnen Halt zu bieten. Über Jahre hinweg wird die allabendliche Soap-Rezeption zum festen Anker in stürmischen Zeiten. Nicht selten bestimmt dieses Genre bereits ein Drittel ihres Leben die Abendgestaltung. Das bedeutet aber auch, dass sie nur wenige Alternativen kennen gelernt haben.

 

ANMERKUNGEN
1 Sowie HauptschülerInnen bis 15 Jahre
2 Die Aussagen der Kinder wurden wörtlich mitgeschrieben sowie auf Band zur Kontrolle und für Nachfragen aufgezeichnet. Bei besonders auffälligen Interviews wurde das gesamte Interview transkribiert.
3 Durchgeführt in Zusammenarbeit mit Astrid Klingl M.A., Dipl.-Psych. Zoltan Heger, Tanja Raabe, Helke Klag, Maike Janssen M.A., Marc Meissner M.A., Dipl.-Päd. Ricarda Dröse, Dipl.-Psych. Eva-Susanne Vocke, Dipl.-Päd. Claudia Topp, Dipl.-Psych. Edith Müller, Sozialwirtin Uta Fremer,
4 In Zusammenarbeit mit Astrid Klingl (vormals Graner) M.A. und Dipl.-Psych. Eva-Susanne Vocke
5Durchgeführt in Zusammenarbeit mit Helke Klag und Dipl.-Oec. Ole Hofmann
6Durchgeführt von Dipl.-Psych. Eva-Susanne Vocke
7 Durchgeführt in Zusammenarbeit mit Maike Janssen M.A. und Dipl.-Oec. Ole Hofmann
8 Durchgeführt von Genia Baranowski
9 Durchgeführt von Genia Baranowski
10 Durchgeführt in Zusammenarbeit Astrid Graner-Klingl M.A.
11 Unter der Leitung von Dipl.-Oec. Ole Hofmann, Klaus Rummler und Judith Seipold
12Dipl.-Med.Wiss. Axel Hahn, Dipl.-Med.Wiss. Peter Herrmann, Katja Herzog, Frieder Scheifferle
13 Durchgeführt von Birgit Taffertshofer
14 Bei "Marienhof"waren hierfür vor allem die Figuren Nik und Toby sowie Robby, Olli und Billy für Mädchen attraktiv; bei "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" vor allem die Figuren Chris und – obwohl zum Zeitpunkt der Erhebung bereits ausgestiegen – Ricky/Olli P. sowie Kai.
15 Bei den per Interview erhobenen Befragungen wird der Name der entsprechenden Sendung eingesetzt.
16 Durch die geringe Anzahl von Fällen zu "Unter Uns" lassen sich hierzu keine Aussagen machen. Bei 11 Fällen kann man nicht von einer theoretischen Sättigung ausgehen und formatspezifische Unterschiede wären zu sehr an den einzelnen, individuellen Fall gebunden.
17 Durch die Aktualität dieser Teilstichprobe wurden Ergebnisse bereits veröffentlicht: Götz, Maya: Die Funktionen von "Big Brother" für Kinder und Pre-Teens. In: Beck, Kurt et al.: Big Brother: Inszenierte Banalität zur Prime Time. Münster – Hamburg – London: Lit-Verlag 2000, S, 253-270; Zeig mir, wie Du wirklich bist! Was Kinder und Jugendliche an "Big Brother" fasziniert. In: Das Magazin (im Druck); Gemeinsamkeit und Ausgrenzung: Die Bedeutung von Big Brother für Kinder. In: Cippitelli, Claudia; Schwanebeck, Axel (Hrsg.): Pickel, Küsse und Kulissen. Soap Operas im TV. München: KoPäd 2000 (im Druck).

LITERATUR
  • Bachmair, Ben: Fernsehkultur. Subjektivität in einer Welt bewegter Bilder. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, 356 S.
  • Baranowski, Genia: Die Figuren der Daily Soaps "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", "Marienhof", "Verbotene Liebe" und "Unter Uns" und was Kinder und Jugendliche damit machen. Erscheint in: Götz, Maya (Hrsg.): (Arbeitstitel) Alles nur Seifenblasen? Bedeutung von Daily Soaps für Kinder und Jugendliche. München: KoPäd 2001.
  • Brown Lyn M.; Gilligan, Carol: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Entwicklung von Mädchen und Frauen. Frankfurt, Main u.a.: Campus 1994, 280 S.
  • Brown, Mary Ellen: Soap opera and women’s talk. The pleasure of resistance. Thousand Oaks, Calif. u.a.: Sage 1994, 213 S.
  • Frey-Vor, Gerlinde: Langzeitserien im deutschen und britischen Fernsehen. Lindenstraße und EastEnders im interkulturellen Vergleich. Berlin: Spieß 1996.
  • Göttlich, Udo; Nieland, Jörg-Uwe: Daily Soaps als Kaleidoskop der Individualisierung. In: Latzer, Michael; Mair-Rabler, Ursula; Siegert, Gabriele; Steinmaurer, Thomas (Hrsg.): Die Zukunft der Kommunikation. Phänomene und Trends in der Informationsgesellschaft. Innsbruck u.a.: Studien Verlag 1999, S. 313-328.
  • Göttlich, Udo; Nieland, Jörg-Uwe: Daily Soaps als Umfeld von Marken, Moden und Trends: Von Seifenopern zu Lifestyle-Inszenierungen. In: Jäckel, Michael (Hrsg.): Die umworbene Gesellschaft. Analyse zur Entwicklung der Werbekommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 179-208.
  • Göttlich, Udo: Zur Entdeckung eines Genres. Die deutschen Daily Soaps im Fernsehen der 90er Jahre. In: Texte Sonderheft der Zeitschrift medien praktisch, -/3/2000, S. 32-44.
  • Götz, Maya: Harte Kerle, schöne Frauen. Entwicklung der Geschlechterstereotypen in Film und Fernsehen. CD-ROM zu den Medientagen München ’99. Herausgegeben von der DVB Multimedia Bayern GmbH, München 1999a.
  • Götz, Maya: Mädchen und Fernsehen: Facetten der Medienaneignung in der weiblichen Adoleszenz. München: KoPäd 1999, 400 S.
  • Harrington, Lee C.; Biely, Denise D.: Soap fans. Pursuing pleasure and making meaning in everyday life. Philadelphia: Temple University Press 1995, 224 S.
  • Hermann, Peter: Schloss Einstein – die erste Soap Opera im deutschen Kinderprogramm. Diplomarbeit, vorgelegt am 10.4.2000 an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg, 149 S.
  • Mikos, Lothar; Feise, Patricia; Herzog, Katja; Prommer, Elizabeth; Veihl, Verena: Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis Big Brother. Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft. BFF Schriftenreihe der Hochschule für Film und Fernsehen HFF ‚Konrad Wolf‘, Potsdam-Babelsberg Bd. 55, Berlin: Vistas 2000, 221 S.
  • Stauber, Barbara: Starke Mädchen von Heute leben gefährlich – Mädchenbilder im Wandel. In: Jugend Nachrichten, 54/9/2000, S. 5-6.
  • Tilemann, Friederike: Daily Soaps und Grundschulkinder: Eine medienpädagogische Einschätzung. Erscheint in: Götz, Maya (Hrsg.): (Arbeitstitel) Alles nur Seifenblasen? Bedeutung von Daily Soaps für Kinder und Jugendliche. München: KoPäd 2001.
  • Vocke, Eva-Susanne: Interaktive Funktion von Daily Soaps. Schloss Einstein und Big Brother für Kinder und Jugendliche. Erscheint in: Götz, Maya (Hrsg.): (Arbeitstitel) Alles nur Seifenblasen? Bedeutung von Daily Soaps für Kinder und Jugendliche. München: KoPäd 2001.
  • Willis, Paul: Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur. Hamburg u.a.: Argumente-Verlag 1991, 200 S.
  • Winter, Reinhard; Neubauer, Gunter: Kompetent, Authentisch und Normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. Eine qualitative Studie im Auftrag der BZgA. Hrsg: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) – Abt. Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung, Bd. 14. Köln: BZgA 1998, 386 S.
  • Wolf, Naomi: Der Mythos Schönheit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1991, 446 S.
  • Zimmermann, P. : Junge, Junge! Theorien zur geschlechterspezifischen Sozialisation und Ergebnisse einer Jungenbefragung. Dortmund: IFS-Verlag 1998, 129 S.


DIE AUTORIN
Maya Götz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, München.
maya.goetz@brnet.de
www.maya-goetz.de

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© Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2000
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