Ralf Gerhardt
Die Fantastische Filmfabrik
TV-Geschichten von Kindern
In der Fantastischen Filmfabrik,
einer Aktion des Disney Channels, schreiben Kinder selber die Geschichten.
Es sind starke Erzählungen, oftmals aus dem persönlichen
Umfeld der Kinder. Sie handeln von Erlebnissen des Alltags, schrecken
vor Konflikten nicht zurück, haben aber immer ein Happy End.
"Darum
liebe ich die Kinder,
weil sie die Welt und sich selbst
noch im schönen Zauberspiegel
ihrer Phantasie sehen."
(Theodor Storm)
Kinder tun, was
Erwachsene sich verbieten: Sie reflektieren Wirklichkeit im Spiel
und in fantastischen Geschichten. Ihnen ist es nicht peinlich, hemmungslos
"rumzuspinnen". Sie können Logik und Vernunft noch hinten anstehen
lassen. Um ihren Ideenreichtum zu fördern und die Einfälle
von Kindern zu würdigen, hat der Disney Channel die Fantastische
Filmfabrik ins Leben gerufen. Nach einem beeindruckenden und
erfolgreichen ersten Wettbewerb im Jahr 2001 ging das Projekt in
diesem Jahr bereits in die zweite Runde.
Mit über 42.000 angeforderten Schreibanleitungen
und rund 3.500 eingesandten Geschichten hat die Aktion im Jahr 2002
alle Erwartungen übertroffen. Und auch wenn jede Einsendung
ohne Zweifel einzigartig ist, lassen sich aus den Geschichten drei
Tendenzen herauslesen:
- Am auffälligsten ist, dass
die erfundenen Storys immer sehr stark mit der erlebten Wirklichkeit
von Kindern zu tun haben. Die Realität sowie literarische
und filmische Vorbilder dienen als Inspirationen.
- Der beste Freund oder die beste
Freundin werden auffällig häufig thematisiert – und
zwar auf eine verherrlichende, eher realitätsfremde Weise.
- Die Geschichten erzählen von
einer großen Sehnsucht nach Harmonie: Ein Happy End ist
bei den fantastischen Geschichten der Kinder zwingend.
Der Wettbewerb hat den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern zwischen acht und dreizehn Jahren einiges abverlangt.
Allein oder im Team sollten sie eine 4- bis 10-seitige Geschichte
schreiben. Die einzige inhaltliche Vorgabe: Kinder in ihrem Alter
sollten die Hauptrolle spielen. Als Hauptgewinn winkten die Verfilmung
der Sieger-Geschichte und ein Auftritt im Disney Channel.
Ein Thema war nicht festgelegt, denn Kinder
wissen am besten, was Gleichaltrige interessiert. Somit gab es lediglich
Tipps zur Themenfindung. Die Schreibanleitung "Dein persönliches
Storybuch" hat den Interessierten darüber hinaus Hilfestellungen
gegeben: Wie finde ich den ersten Satz? Was erzeugt Spannung? Welche
Stilmittel verwende ich? Schreibanleitungen wie diese wurden durch
praktische Aufgaben ergänzt: Kinder sollten erste Geistesblitze
notieren, Erzählskizzen entwerfen oder auf einer Ersatzwortliste
Synonyme für häufig verwendete Wörter eintragen.
Die Fantastische Filmfabrik wollte Kinder also nicht nur
zum kreativen Schreiben animieren, sondern auch ihre Neugier und
ihre Lust am Lernen befriedigen.
Auch an die Lehrer, die den Wettbewerb in
ihren Unterricht integrieren wollten, wurde gedacht. Der Disney
Channel lieferte eine Mappe mit Arbeitsblättern und -folien,
mit deren Hilfe sich eine Unterrichtseinheit "Kreatives Schreiben"
gestalten ließ.
Vier Monate hatten die Mädchen und Jungen
dann Zeit, ihre Geschichten zu Papier zu bringen. Weil die Fantastische
Filmfabrik großen Einsatz von Kindern erfordert, war von einer
eher geringen Teilnehmerzahl auszugehen. Schließlich ging
es um mehr als lediglich eine richtige Antwort auf eine Postkarte
zu schreiben! Die spätere Siegerin hat zwei Ferien-Wochen lang
jeden Tag an ihrer Geschichte gearbeitet. Schon allein die Konzentration
und die Intensität, mit der sich Kinder mit ihrer Geschichte
auseinander setzten, sind bemerkenswert. Dass dann aber fast 3.500
Geschichten eingegangen sind, ist ein unerwartet großer Erfolg.
Allein oder im Team haben Kinder Sätze hingeschrieben, wieder
durchgestrichen, Papier geknüllt, aufgegeben, doch weitergemacht
und am Ende mit Stolz und Selbstbewusstsein die fertige Geschichte
in den Briefkasten geworfen. Offenbar suchen Mädchen und Jungen
nach einem Ventil für ihre Fantasien und sind froh, dass ihre
Ideen, für die im Alltag oft wenig Zeit und Platz ist, in dieser
Aktion Gehör fanden.
"The
world only exists in your eyes.
You can make it as big
or as small as you want."
(F. Scott Fitzgerald)
In den Augen der jungen Geschichtenerzähler
ist die Welt oftmals ziemlich groß und unübersichtlich
– was zählt, ist daher die direkte Umgebung, das "Zwischenmenschliche".
Es gilt, ein funktionierendes Umfeld herzustellen, in dem man sich
als Kind besser zurechtfindet.
Bereits ein Blick auf einige Titel zeigt,
wie stark viele Geschichten im persönlichen Umfeld von Kindern
verankert sind: Karlo und sein bester Freund, Marcel haut
ab oder Freunde fürs Leben. Und auch in den Geschichten
finden sich zahlreiche Schilderungen, die den Biografien von Kindern
entnommen sein dürften oder deren tatsächliche Umgebung
widerspiegeln. "Mein Name ist Julia, ich bin zehn Jahre alt und
bin vor etwa einem halben Jahr mit meinen Eltern und meinem kleinen
Bruder Marcus in ein sehr altes, dunkles Haus gezogen. Meine Mutter
ist Tierärztin und hat sich eine Tierarztpraxis in unserem
neuen Heim eingerichtet. Mein Vater ist Hausmann und kümmert
sich um uns Kinder und den Haushalt. Außerdem hilft er Mama
manchmal in der Praxis. Mit zur Familie gehören noch Elmo,
unser Hund, und Tarzan und Jane, unsere Kaninchen." (Julia Schmittdiel:
Die Sippis im Keller) Das gilt auch für beschriebene
Konflikte. "Wir alle lebten zusammen in Stuttgart. Aber nur neun
Jahre lang, denn Mom und Papa hatten sich so richtig verkracht.
Deswegen wollte Mom mit mir und Miriam nach Frankfurt a.M. zu meinen
Großeltern ziehen. Papa war zwar nicht damit einverstanden,
dass Mom uns beide beschlagnahmt. Doch wenn sie sich was in den
Kopf gesetzt hat, führt sie es auch durch." (Subin Shin: Mein
unsichtbarer Freund)
Erlebnisse in der Schule oder erste Schwärmereien
werden ebenfalls in den Geschichten verarbeitet: "Sahra steckte
mir in der Deutschstunde einen zusammengefalteten Zettel, auf dem
außen stand: 'Für Franky P.S.: Aber erst in der Pause
öffnen!' Als ich ihn in der Pause öffnen wollte, war Sahra
auf einmal ganz schnell nach draußen auf den Schulhof gerannt,
obwohl sie sonst nie oder erst ganz spät ging. Ich öffnete
ihn und da stand: 'An Franky! Ich liebe dich von ganzem Herzen und
will dich fragen: Liebst du mich? Bitte ankreuzen und schnell zurückschreiben!
'" (Simon Buder: Das Dimensionstor)
An den Stellen, an denen die Geschichten
sich von der Realität entfernen, stehen oft klassische Themen
aus Kinderliteratur und Kinderfernsehen Pate. Das Gespenst ohne
Namen, Mein unsichtbarer Freund oder Das Geheimnis
des Rätselsteins sind Titel, die zeigen, dass sich die
jungen Autorinnen und Autoren beim Geschichten-Erzählen eher
an traditionellen Stoffen orientieren. "Es war einmal eine Gespensterfamilie.
Die hatte eine Tochter. Aber diese hatte keinen Namen. Einen Namen
kriegt ein Gespenst nämlich erst, wenn es seinen Namen verdient
hatte. Es musste sich seinen Namen verdienen, indem es vor einer
Jury bewies, dass es die Menschen so erschreckt hatte, dass sie
richtig Angst vor Gespenstern hatten." (Lisa Bost: Das Gespenst
ohne Namen) Einsendungen, bei denen beispielsweise die verschiedenen
Ebenen eines Videospiels die Struktur und Thematik einer Geschichte
entscheidend beeinflusst haben, gibt es hingegen nicht.
Die
erlebte Wirklichkeit,
Literatur und Fernsehen
dominieren als Impulse
für die Geschichten
der Kinder.
In ihrer Fantasie bearbeiten sie Erlebtes
und Erlerntes. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem besten Freund
oder der besten Freundin zu. In auffällig vielen Geschichten
der Fantastischen Filmfabrik spielen sie die Hauptrolle.
Fantasie und Realität verschmelzen hier miteinander und bestätigen
vermutete Prioritäten und Bedürfnisse der Kinder. Denn
egal, ob es das namenlose Gespenst ist oder der unsichtbare Matthias:
Der beste Kumpel steht ohne Wenn und Aber zu einem. Seine Eigeninteressen
lassen sich verblüffenderweise problemlos mit den Interessen
des Protagonisten in Einklang bringen.
Die Fantasien der Kinder spiegeln also eher
Wunschvorstellungen wider als ihre tatsächlichen Erfahrungen.
Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass Kinder ihre Fantasie
benutzen, um nicht erfreuliche Zusammenhänge durch "wishful
thinking" zu ergänzen. Bei der Fantastischen Filmfabrik
wird dies besonders häufig bei den besten Freundinnen und Freunden
eingesetzt. Während Familien oft mit ihren kleinen Macken und
Nörgeleien geschildert werden - "Pass bloß auf, dass
deine neue Hose nicht schmutzig wird. Und komm pünktlich zum
Mittagessen nach Hause!" (Subin Shin: Mein unsichtbarer Freund)
-, ist die enge Freundschaft makellos: "Sie wurden unzertrennliche
Freunde und stritten nie miteinander." (Daniel McMahon: Freunde
fürs Leben).
Und die Wirklichkeit? Spricht man mit Kindern,
warten die meisten tatsächlich mit einem besten Freund oder
einer besten Freundin auf. Die Rolle wird allerdings an wechselnde
Personen vergeben! Immer, wenn es bei live@five, der interaktiven
Live-Show des Disney Channels, um Freundschaftsthemen geht, berichten
Jungen und Mädchen vom wenig zimperlichen Umgang mit anderen:
Der beste Freund aus dem dritten Schuljahr sitzt in der vierten
Klasse am anderen Ende des Raumes und die beste Freundin, die früher
fast jeden Nachmittag ins Haus kam, ist plötzlich blöd.
Kinder scheuen sich auch nicht, die Rolle als Druckmittel einzusetzen.
"Wenn du mir nicht hilfst, bist du nicht mehr meine beste Freundin!"
Schon früh wird man also damit konfrontiert, dass das Zwischenmenschliche
nicht immer einfach und schön ist – in der Fantasie hingegen,
da wird nicht gezickt.
Die Sehnsucht nach der heilen Welt mit reibungslos
laufenden zwischenmenschlichen Beziehungen drückt sich nicht
nur in überhöhten Freundschaftsbeziehungen aus, sondern
auch in klischeehaften Happy Ends. Rabauken werden geläutert:
"Dann hatte sein Weglaufen ja doch noch zu was Gutem geführt.
In den nächsten Wochen würde er seinen Freund wieder besuchen,
um selbst zu sehen, wie Felicia auf eigenen Füßen steht."
(Marcel Hartjes: Marcel haut ab) Und die Allgemeinheit nimmt
am Ende alle Individuen – selbst unerwünschte Hunde – gerne
wieder in ihre Reihen auf: "Strubbel war wieder da, und was am schönsten
war, er durfte sogar bleiben. Karlos Vater hatte den Hund aus seinem
Versteck geholt und mit nach Hause genommen." (Franz Hildebrandt:
Karlo und sein bester Freund)
Die für die Fantastische Filmfabrik
des Disney Channels geschriebenen Geschichten zeigen, wie Kinder
Gleichaltrige im Fernsehen unterhalten würden: mit wirklichkeitsnahen
Geschichten, in denen sich Konflikte zu allseitiger Zufriedenheit
lösen lassen. In den Fantasien der Kinder existiert eine harmonischere
Welt.
DER AUTOR |
Ralf Gerhardt ist Programmdirektor des
Disney Channels (Buena Vista, Germany) in München.
INFORMATIONEN |
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für das Jugend-
und Bildungsfernsehen
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