IZI-Forschung
 
Forschungsschwerpunkt Fernsehen für Fernsehanfänger
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Geschichten verstehen und die Bedeutung des sozialen Hintergrunds

In nationalen und internationalen Studien wurde der Frage nachgegangen, wie Vorschulkinder Sendungen verstehen und welche Bedeutung hierbei ihr kultureller und milieuspezifischer Hintergrund spielt. Da sich die befragte Altersgruppe noch nicht detailliert artikulieren kann, wurden spezielle kreative Methoden genutzt. Zum einen wurde eine Sendung immer wieder angehalten und die Kinder wurden gefragt, was sie verstanden haben. Zum anderen wurden die Szenen von den Kindern mit speziell entwickelten Spielfiguren nachgespielt und wurden nach der haptischen Wiedergabe der Inhalte qualitativ befragt. Insgesamt nahmen 298 Kinder (Durchschnittsalter 4,7 Jahre) in Deutschland, Kuba, Brasilien, der Türkei und Russland teil. Die Stichprobe bestand dabei gezielt zur Hälfte aus marginalisierten, lebensweltlichen Umfeldern. Untersucht wurde die jeweilige Interpretation der nonverbalen Geschichten Anders Artig (ZDF), The Boy, the Slum and the Pan Lids (Brasilien) sowie Olive Branch (Little Airplane Foundation).

Ergebnisse: Insgesamt gibt es mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zwischen den Ländern und den jeweiligen Milieus. Dennoch ist die alltagsweltliche Erfahrung bedeutsam. So wird die Geschichte eines Jungen, der einen Topfdeckel aus einer Favela in Sao Pãulo stiehlt, von Münchner Kindern aus dem wohlsituierten Nymphenburg kaum im intendierten Sinne verstanden. Kinder aus Ägypten verstehen den Kontext des Stehlens hingegen sofort, ebenso den Wert eines Topfdeckels. In den meisten Ländern sind die Kinder aus schwächeren Milieus aufgrund ihrer Alltagserfahrung eher in der Lage, die Geschichte im gemeinten Sinne zu entschlüsseln, als Kinder aus wohlhabenden Milieus. Anders in Brasilien: Hier sind Kinder aus dem gehobenen Milieu dreimal so häufig der Meinung, es ginge ums Stehlen, wie Kinder aus einem Armenviertel. Vermutlich sind dort die Vorannahmen über Kinder aus Favelas und deren Verhalten bereits im Vorschulalter tief verankert. In Russland kommt noch eine weitere überraschende Interpretation hinzu: Die Kinder meinen, der Junge würde aus Angst handeln. Wie sehr neben der alltagsweltlichen Erfahrung auch kulturell geprägte Deutungsmuster eine Rolle für das Verständnis spielen, zeigt sich bei der Interpretation der letzten Szene, in der die Mutter den Sohn am Abend wieder in die Arme schließt nachdem er den Topfdeckel und sogar noch einen zweiten zurückbringt. Weil sie ihn liebt, heißt die häufigste Antwort in Ägypten; weil er zwei Deckel zurückgebracht hat, lautet die zweithäufigste Begründung. Dass ein zweiter Topfdeckel ein Grund für eine Umarmung sein könnte, konnten sich die Münchner Kinder nicht vorstellen, wohl aber, dass die Mutter froh ist, dass er zurück ist und dass sie stolz auf ihn ist, weil er gute Musik gemacht hat.

Literatur:
Götz, Maya; Schwarz, Judith; Gruber, Simone; Pembecioglu, Niluefer; Bondarenko, Ekatarina; Nasser, Seham; Carmona, Beth; Rivero, Pablo Ramos: Wie Vorschulkinder Fernsehgeschichten verstehen. Eine internationale Vergleichsstudie in Russland, der Türkei, Kuba, Ägypten, Deutschland und Brasilien. TelevIZIon, 25/2012/2, S. 10-15.